Frisch gepreßt #402: Zugezogen Maskulin „Alle gegen alle“

Wir leben in großen Zeiten wirrer Analysen: Ein ganzes Land, ach was: ein ganzer Kontinent, ein Halbplanet fragt sich, weshalb in seinen Parlamentspalästen plötzlich Horden von geschniegelten bis rüpeligen Nazis und anderen rechtsextremen Grimmgesichtern und Brüllfratzen drinsitzen. Fragt sich aber nicht, wieso es/er die Banden erst so lange durch die mediale Bekanntmachungsklappermühle von Talk und News gedreht hat, bis sie als manifeste Wirklichkeit aus dem Beton und Asphalt seiner Straßen erstanden, und sie dann auch noch selbst da hineingewählt hat. Fragt sich auch nicht, was an den endlos wiedergekäuten Hohlargumenten so zeitgemäß und attraktiv sein könnte, daß sie mittlerweile aus allen übrigen Parteizentralen so blechern schrill herausschallen, daß das „Original“ dasteht wie eine Fichte im Brombeergestrüpp und dort links drüben, wo mal Vernunft, Debatte, Streit und eben Analyse ihren Ort hatten, eine gigantische Wüste gähnt.

Gesiegt hat die Dekonstruktion. Deren letztes Plätschern umspült den Einzelmenschen, der durch seine Biographie von Erstellung und Konsum rödelt und inzwischen so oft „Kapitalismus“ gesagt hat, daß er auch „Wurst“ sagen könnte. Wie ist er da gelandet, diesseits seiner/aller Träume? „Mein Zimmer war eng, klein und muffig. Punk war tot und das Lego verstaubt. Durch die Straßen dröhnte die Stille, und dann kam da dieser Sound.“ Gemeint ist: der blechmaskierte Brutalo-Rap der frühen Nuller, dessen Urzgurz-Stimmklang und Trotzbub-Attitüde in Grim104 und Testo lange nach Anstoß und Erweckung nachhallen – wie im Namen (vgl. „Südberlin Maskulin“, Fler/Godsilla 2008).

Aber die Faust im Kopf ist aufgegangen, hat sich gespreizt zu mindestens fünf Zeigefingern, dem Rührei-Hirn ist eine Sarkasmusdrüse gewachsen: „Ohne Staat und Kollektiv, wie schlägt man da die Zeit tot? Beisenherz, Dagi Bee, Snapchat, Psaiko.Dino“ und „Was sagt ihr zu ‚Kollegah trägt Versace‘? Schreibt’s uns in die Kommentare. Dafür gingen meine Großeltern ’89 auf die Straße.“ Sie hätten daheimbleiben können; die Wege des Geldes sind nur kürzer geworden. „Alles ist zum Kotzen, Mittelmaß wohin man sieht. Na ja, mit etwas Glück sterb‘ ich bald in einem Krieg.“

Ach ja, beim Kotzen schleicht sich erfahrungsgemäß der Moralische in den Hinterkopf, die Larmoyanz schaltet das Rücklicht ein, mit dem die Chimäre der gelogenen Chance kichernd davonbraust. Da kann man sich raushalten aus dem kollektiv wissenden Nicken der ausgeplapperten Influencer und Redaktionspraktikanten, eine Linie ziehen und sagen: Klar, aber nun ist’s auch wieder genug.

„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, doch wir haben vorgeblättert: Auf den nächsten Seiten wird das Scheißbuch leider auch nicht besser.“ Lächelt schon jemand? Lieber nicht: „Denn wenn ich sympathisch lächele und ihr Selfies mit mir macht, rast in mir mein Planet weiter finster durch die Nacht.“ Jetzt aber doch, gelt?

Es ist nicht immer die beste Option, dem Dröhnen der geistigen Stille etwas anderes entgegenzusetzen als wahre Stille, nämlich: noch mehr Dröhnen als umgekipptes Zerrbild des Faselns, der wirren Analysen, die auf beiden Augen blind bleiben, weil der Mund so weit auf ist. Aber manchmal hilft nichts anderes als das: Die Ironie so dick mit Stahl ummanteln, daß der Tumbkopf mitbrüllt und (sowieso) nicht merkt, was er da brüllt. Die anderen sind ja auch nicht besser, hauen sich nur anderes Zeug rein, machen was „mit Kunst“ und ersetzen in der Forderung „Wenn du hier rappen willst, laß‘ mich erst mal deinen Stammbaum sehen“ ein kleines Wort durch ein anderes.

Die Wüste ist weit, ja. 41 Minuten Zugezogen Maskulin reichen nicht aus, um in ihr sichtbarer zu werden als ein abstürzender Funksatellit aus vergessenen Modernzeiten. Sind u. U. auch ein paar Minuten zu viel, wenn die Zeigefinger aufdringlich werden. Aber hinterher folgt die Stille, und die schaltet zum Rücklicht die Frontscheinwerfer ein und bringt zumindest schon mal Helligkeit ins Dunkel: „In mir ist die Steinzeit und der Krieg und die Geilheit und der Trieb. Und die Angst, daß das irgendeiner sieht.“ Da sind die Zeiten schon kleiner, und vielleicht fangen wir zur Abwechslung mal wieder das Denken an. Und das Streiten.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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