Am Rande der gewaltigen Wüste, die ich meine Lebensgeschichte nennen könnte, lebt in seiner buckeligen Kate ein Einsiedler, der sich dorthin zurückgezogen hat, um den Menschen so fern und dem Nichts so nahe zu sein wie nur möglich, ohne sich den einen ganz zu entfremden und dem anderen gänzlich zu verfallen. Hin und wieder laufen wir uns über den Weg; dann erzählt er ein paar von seinen verschrobenen, verwinkelten Geschichten, und wir ziehen wieder unserer Wege.
Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor Urzeiten, es könnten noch die 80er gewesen sein, Jesus Christus! Dazumalen ließ er in einer Halle namens Theaterfabrik, Gott hab sie selig, ein Konzert seiner Band Giant Sand ankündigen. Giant Sand waren eine Alternative-Band, ziemlich independent, und das hieß damals noch so richtig was. Ihre und seine Spezialität war, draufloszuspielen, ohne daran zu denken, was bei einem Song am Ende herauskommen könnte, ob es überhaupt ein regelrechtes Ende geben konnte, sich statt dessen ganz darauf zu konzentrieren, dem momentanen und dem tiefen Gefühl absolute Freiheit des Ausdrucks zu verleihen.
Ich kannte Giant Sand von einem bekifften Nachmittag im Schwabinger Dachzimmer eines Freundes, den wir damit verbrachten, uns Platten vorzuspielen. Allerdings wußte ich nur noch, daß ich verwirrt und begeistert war von Gitarrenakkorden, die es gar nicht gab und auf denen trotzdem Melodien tanzen konnten, und einem Schlagzeug (John Convertino), das so wunderbar klar, präsent und natürlich knallte, rummste und klirrte wie keines sonst in jenen fürchterlichen Zeiten der Noise-gates, Simmons-Pads und Elektrotrommeln.
Nun kam jener Einsiedler, der Howe Gelb heißt, also auf die Bühne, sturzbetrunken, ließ mittendrin das Saallicht anschalten, beschimpfte seine Band, trat ins Schlagzeug, schmiß Instrumente und Sachen in der Gegend herum und spielte dann stundenlang, ohne Ziel und Zusammenhang, die schönste, bewegendste und chaotischste Musik, die ich je auf einer Bühne gehört hatte. Wir waren hinterher so betäubt, daß wir aus Versehen in die falsche Richtung fuhren und das erst in Freising bemerkten.
In den Jahren seither habe ich mir jedes Album von Giant Sand und Howe Gelb angehört, und das waren tatsächlich Massen. Darunter war das Meisterwerk „Swerve“ (1990), auf dem zu hören ist, wie Gelb mit seiner improvisierten Genialität einen Musiker zur Weißglut bringt („I hate doing this kind of shit! I need to know what the music is, I need to know what the words are, I need to know what the notes are! I’m a professional. I’m not no improviser, no scat musician!“), war manch schönes Album, war auch viel Zeugs, auf dem aus dem Sumpf des Herumspielens nur Convertinos Schlagzeug herausragte (leider ging er dann zu den Langweilern Calexico).
Jetzt ist der Einsiedler sechzig Jahre alt und dort gelandet, wo viele seiner Wege nachträglich betrachtet schon immer hinführten: beim klassischen, coolen, rauchgeschwängerten Jazz, den er so begreift, wie er seine Musik immer begriff – offen, blue, gelassen mäandernd. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Songs, die man schon immer zu kennen glaubt und zugleich noch nie gehört hat. Zukünftige Standards wie „Irresponsible Lovers“, die Pianisten in Spelunken und spätnächtlichen Hotelbars möglicherweise in hundert Jahren noch spielen und damit die Gespenster des Zwielichts zu Tränen und einem gelegentlichen Grinsen über ein besonders schönes Bonmot rühren werden. Ob sie sie je so genial hinkriegen wie der Einsiedler selbst? Ich zweifle und sehe Cole Porter, Frank Sinatra, Billie Holiday, Chet Baker und Dexter Gordon im Jenseits vor Freude schweben und schweigen.
Daß Gelb die sonst üblichen Fransen seiner Musik komplett gekappt, sie destilliert und reduziert hat, bis sie in absolut reiner Form erstrahlt und jeder vermeintlich falsche Ton einen Charakter annimmt, der einem immer wieder ein „Wow!“ entlockt, macht dieses Album zu seinem möglicherweise schönsten überhaupt. Und wenn er am Ende die moderne Aufnahmetechnik abschaltet und drei Songs lang im düsteren Saloon herumhängt, wo das Klavier klingt wie mit einer Zeitmaschine aufgenommen, die jemand aus einer alten Küchenuhr gebastelt hat, schließt man die Augen, erfüllt von einem so unendlichen Glücksgefühl, daß man nicht mal zu seufzen wagt und sich zehn Monate tiefsten Winter wünscht, um nichts anderes zu tun als diese Musik zu hören, immer und immer wieder.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.