Was man über die bayerische (und speziell die Münchner) Kultur im allgemeinen wie im besonderen weiß, läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Beim Bier hört der Spaß auf. Weil beim Bier die Freude losgeht.
Nämlich ist der Mensch nun einmal auf der Welt, um sich zu freuen – und für nichts anderes. Freilich mag man einwenden, daß man sogar in Bayern auch ohne Bier lustig sein kann. Das ist man ja bisweilen auch, sogar in München. Daß in diesen beiden Sätzen zweimal „auch“ und zweimal „sogar“ vorkommt, wird jedoch gerne übersehen. Man kann sich ja zum Beispiel „auch“ „sogar“ alleine sexuell vergnügen. Aber … ja mei.
Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang war diese Grundweisheit so tief im Volkswissen und der individuellen psychischen Beschaffenheit verankert, daß kaum mal ein verbiesterter Despot oder Griesgram auf die Idee kam, unbedacht am Watschenbaum zu rütteln, unter dem der Biertisch nicht nur allegorisch steht.
Das war in alten Zeiten auch nicht ratsam. Der heilige Adalbert, ansonsten allenthalben hochgelobt, fing sich mit einer Predigt gegen das Biertrinken so nachhaltigen Zorn ein, daß ihn Max Bauer noch fast tausend Jahre später in seinem Standardwerk „Der deutsche Durst“ einen „verbissenen Preußenapostel“ schimpfte. Wer Bier schmähte, war verdächtig, und wer Bier panschte, dem drohte unter Umständen der Scheiterhaufen.
Schickte sich ein Mächtiger an, das Reinheitsgebot zu brechen, indem er den Bierpreis erhöhte, flog ihm seine Brauerei oder gleich das Dorf um die Ohren. Oder die ganze Stadt, wie es dem eigentlich populären König Ludwig im März 1844 widerfuhr: Ein Pfennig mehr pro Liter, und schon stürmten tausende Erboste die Münchner Brauereien, schlugen Fenster ein und das Mobiliar zu Klump. Nicht einmal das Militär wollte helfen, sondern verweigerte geschlossen alle Befehle, weil der Aufstand ja berechtigt war. Vier Tage lang tobte die Revolte, dann gab der König nach und ließ den Preis im Oktober gleich noch mal senken, „um dem Militär und der arbeitenden Klasse einen gesunden und wohlfeilen Trunk zu bieten“. Da hatte einer seine Lektion gelernt.
Als es vier Jahre später im Zuge der vermeintlichen deutschen Revolution zu erneuten „Biertumulten“ in München kam, hatte Ludwig gerade abgedankt. So kam sein Sohn Max II. gleich mal in den Genuß, das Einlenken zu lernen, ebenso wie 1888 Ludwigs Bruder Luitpold in Vertretung von Max’ Sohn Otto, der derweil in Fürstenried mit Morphium und Moralpredigten von seiner kriegsbedingten Depression kuriert werden sollte, statt daß ihm mal jemand eine heilende Maß Bier hingestellt hätte.
Daß aufrührerische, umstürzlerische und alle möglichen anderen staatsfeindlichen Ideen in Bayern so gut wie immer am Biertisch zusammengekocht werden, ist eine Binsenweisheit, nicht erst seit die Obrigkeit zur Zeit der Sozialistengesetze Polizeispitzel in die Wirtshäuser entsandte, die dort unter Lebensgefahr vermeintliche und echte Aufwiegler belauschen sollten. Was bei dem Geköchel herauskommt, weiß man nie – es kann ein Krawall werden, eine philosophische oder sektiererische Spinnerei, eine richtige Revolution samt Räterepublik, es kann aber auch eine Nazipartei aus dem Bierkellerdunst herausmarschieren (und bisweilen marschiert hinterher einer ihrer Funktionäre als Ministerpräsident wieder in den Dunst hinein).
Es geht also eine nicht geringe Gefahr davon aus, wenn der Bayernmensch mit seinem Bier und seinesgleichen zusammenkommt. Eine Gefahr mal für die Mächtigen, mal für die Ohnmächtigen, für Außenstehende sowieso, eine Gefahr für System und Staat, Autorität und Vernunft, für Mehrheit und Minderheit. Da wundert es nicht, daß sich gelegentlich obrigkeitshörige Temperenzler- und Abstinenzlervereine um eine Domestizierung der Arbeiterklasse mühten und daß im Lauf der Jahrhunderte manch ein Bestimmer auf die Idee kam, die Kneipen einfach mal zuzusperren, zumindest eher, oder wenigstens ab zehn kein Bier mehr ausschenken zu lassen, damit eine Ruhe ist im Land.
Erfolg hatten solche Schnapsideen noch nie. Nirgendwo. In England schüttete man sich eben früher und noch systematischer zu, in den USA explodierte mit der Prohibition der Saufkonsum, und in Bayern kletterte im Mai 1995, als ein Gericht die Biergärten um halb zehn zumachen wollte, sogar die Staatsregierung mit auf die symbolische Barrikade, weil sie wußte, was ihr sonst blüht: ein Wahlergebnis im Bereich des Stammwürzegehalts von Wiesnbier.
Ganz egal ob Hopfen und Malz Treibstoff der Selbstermächtigung, Katalysator wilden Frohsinns oder die letzte Zuflucht des geknechteten und entrechteten Ausbeutungsopfers war – stets galt die Grundregel: Geh dem Bayern an sein Bier, dann schnalzt es.
Indes war man hierzulande auch früher gelegentlich tolerant und hat so manches hingenommen, unter anderem Krieg und Unterdrückung, den Kapitalismus und den Bayerischen Rundfunk. Man nahm selbst die Franken hin, weil’s der Napoleon so wollte, allerdings mit gewissem Dünkel, nicht nur wegen der Lutherbibel und der etwas eigentümlichen dialektalen Sprechweise, sondern wohl in erster Linie aufgrund einer regionalen Sonderlichkeit, von der Johannes Boemus um 1520 berichtete: „Das Bier verachten sie und lassen es nicht leicht bei sich einführen.“ Das Getränk, das ein Scribent aus Erfurt (wo das Bier damals vielleicht nicht zufällig Luntsch hieß) um die gleiche Zeit „eine dicke, dem menschlichen Körper schädliche Flüssigkeit“ nannte, die „ein böser Geist zum Verderben der Menschheit erfunden“ habe, „um mit diesem verderblichen Gift die meisten hellen Verstandeskräfte zu vernichten“, – dieses Getränk wurde laut Boemus in Franken „nur zur Fastenzeit und zwar außerhalb der Stadt auf Schiffen verkauft, damit die, welche sich des Weines enthalten, es statt Wasser haben können“.
Wie gesagt: die Franken nahm man hin (die Thüringer nicht). Sie lernten ja späterhin eifrig das Brauen, und zwar so vortrefflich, daß die dankbaren Bayern sogar den einen oder anderen Franken hinnahmen, der den Franken selber zu viel war, und ihn notfalls in die gemeinsame Staatskanzlei hineinsetzten, wo immerhin die ersten drei von vier nach dem Krieg bislang dort Verräumten sich manchmal vergleichsweise gar nicht so arg dumm anstellten und der dritte sogar meinte, das Autofahren nach der zweiten Maß propagieren zu dürfen.
Aber einen unlustigen, hypochondrischen Oberbefehlshaber, der mit dem Gehabe des vorlauten „Halt die Bapp!“-Klassenstrebers dahertrumpft und im Ton eines bösen Hausmeisters oder vielmehr seines treuesten Begleiters (Motto: „Bellen statt zuhören!“) verfügt, das neue Lebensmotto müsse „Mehr Maske, weniger Alkohol!“ lauten und es müsse im willkürlichen Tagesrhythmus mit einem unberechenbaren Sperrfeuer von Verboten, Einschränkungen, Maßregelungen, Demütigungen, Entwürdigungen und Strafen auf die Menschen eingedroschen werden, bloß damit niemand einen Schnupfen kriegt, – einen solchen hätte man in normalen Zeiten (wie man so sagt) „beim Arsch und beim G’nack“ genommen und hochkant hinausgeschmissen. Aus dem Wirtshaus, aus dem Amt, zur Not auch aus dem städtischen Burgfrieden. Eventuell hätte man ihn unter Rückgriff auf fremdländische Sitten geteert und gefedert auf einer Eisenbahnschiene an den Ortsrand getragen, bei milderer Gesinntheit vielleicht auch in ein gemütliches, weit genug entferntes Landschlößlein oder Privatkloster exiliert, wo er dann unter pädagogischer Aufsicht nach Herzenslust sein Geschrei veranstalten hätte können, ohne daß es wen gejuckt hätte.
Warum das heute nicht mehr geschieht, warum man sich heute einfach alles gefallen und sogar das gesellige Biertrinken verbieten läßt und die Bösen, die einen malträtieren, am Ende noch bewundert und wählt, das ist eine interessante Frage. Es könnte sein, daß der Mensch – selbst der bayerische – irgendwann so fügsam, verschüchtert und unterwürfig wird wie ein armer Hund, wenn man ihn nur lange und intensiv genug mit Gebrüll und Schlägen traktiert und ihm zwischendurch schleimsüß einschärft, das alles geschehe doch nur zu seinem besten.
Es könnte aber auch sein, daß man sich den Circus zwar noch bieten läßt, aber eben: noch. Geprügelte Hunde, das sollten die Mächtigen bedenken, werden bisweilen ebenso unberechenbar wie ihre Peiniger. Und bissig dazu.
Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil die meisten Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund der Auftrittsverbote für Bühnenkünstler abgesagt wurden. Daher gibt es die Kolumne vorübergehend nur hier (und auf der In-München-Seite).