Belästigungen 22/2020: „Exile & Freedom“ auf sechs Beinen: Vom Leben ohne Ahnung und Furcht

Seit ein paar Wochen haben wir eine Mitbewohnerin. Sie ist relativ unauffällig, verschwindet täglich stundenlang irgendwohin, wo man sie selbst dann nicht findet, wenn man sie sucht. Dann wird ihr wieder langweilig, oder sie braucht Unterhaltung und Nähe, und schon kommt sie wieder daher und nimmt ein bisserl am häuslichen Sozialleben teil.

Das heißt: Sie folgt uns von Zimmer zu Zimmer, setzt sich mal hier, mal da auf einen Arm oder eine Schulter, schaut nach, was auf der frisch aufgebackenen Brotscheibe liegt und ob im Kompost was Interessantes zu finden ist. Oder sie sitzt einfach da und reibt sich die Hände, weil irgendein Stäubchen dran ist. Das mag sie nicht sonderlich, offenbar. Sagen tut sie aber nichts.

Für die meisten Dinge, die von außen in den kleinen Kosmos zu seinen drei Bewohnern hereindringen, interessiert sie sich augenscheinlich überhaupt nicht (abgesehen von Lebensmitteln, aber auch da ist sie äußerst genügsam). Zum Beispiel geht hin und wieder ganz von selbst der Radio an. (Das tut der tatsächlich, vermutlich ein neues „Feature“ für die Coronabevölkerung, das verhindern soll, daß sich ein paar ruchlose Leugner und Verweigerer dem gesamtgesellschaftlichen Gleichschritt mit der Ausrede entziehen möchten, sie hätten von den neuesten „Maßnahmen“ nichts erfahren.)

Dann tönen die Tagesbefehle und -parolen durch die Küche. Wir erfahren, daß die Zahlen „hochschnellen“ (wie das früher die Sprengsätze der Terroristen taten, was in punkto Social Engineering auf das gleiche hinausläuft). Wir erfahren, daß Markus Söder „Härte“ fordert, wie er das seit seiner Geburt alle paar Minuten tut, und daß Karl Lauterbach die Bundeswehr in Privatwohnungen einmarschieren lassen möchte, wenn man sich dort skrupellos zwecks Fröhlichkeit zusammenrottet. Wir kriegen zu hören, was das (nicht umsonst so genannte) „gemeine Volk“ so alles umtreibt, weil Leute, die seit 1945 geschwiegen haben, nun hordenweise beim Radio anrufen, um ihre paranoide Kontrollhysterie und ihre sadistischen Bestrafungsphantasien ungehemmt aus dem Lautsprecher keifen zu dürfen. Wir erfahren endlich, daß es draußen, wo zwischen den lockeren Wolkenschwaden immer mal wieder die Sonne aufblitzt, „bedeckt und regnerisch“ ist, und wir fragen uns, in welche grausige Dimension welcher grausigen Realität es uns verschlagen hat.

Der Mitbewohnerin ist das – allem Anschein nach – ziemlich egal. Sie folgt uns gleichmütig ins andere Zimmer, wo das Internet vor sich hin flackert. Das rollende Rechteck zeigt Briefmarkengesichter, die sich gegenseitig den Restverstand absprechen beziehungsweise Volksverrat vorwerfen, sich auffordern, zu denken anzufangen, weil sie dann alles verstehen und den geplanten Untergang vielleicht noch stoppen können, beziehungsweise zu denken aufzuhören, weil sonst Massengräber ausgehoben werden müssen. Die einen belustigen sich grimmig über die Hochstapeleien eines prominenten Scharlatanvirologen, die anderen verehren ihn als Gott und bestrafen jede Lästerung mit einer Lawine von Großbuchstaben und der unwiderruflichen kollektiven Exkommunikation.

Zwischendurch blinkt eine Werbung für „Exile & Freedom“ auf. Ist aber nur ein „Wanderschuh“, auch noch ein besonders häßlicher, den man umständlich wegklicken muß. Der Mitbewohnerin ist das ebenso egal. Allerdings läßt sie sich nun auffällig oft auf den Händen nieder, die Botschaften in das digitale Geplärr hineintippen – als wollte sie sagen: Laß das lieber, es bringt nur Verdruß.

Vielleicht hat sie recht, unsere Mitbewohnerin. Wahrscheinlich hat es wirklich wenig Zweck, das eigene Hirn auszuwringen, um anderen etwas mitzuteilen, das sie gar nicht hören wollen und auch nicht können, weil ein Übermaß an Propaganda das Hirn und die Ohren so verhornt, daß nur noch das hineingeht, was schon drin ist. Drum dreht sich das Karussell weiter.

Soll es. Unserer Mitbewohnerin ist auch das ziemlich egal. Es kümmert sie nicht, daß sie mit großer Sicherheit noch allerhöchstens einen Monat zu leben hat und dann sterben wird. Das weiß sie nämlich nicht. Drum bemüht sie sich auch nicht, „noch schnell“ alles mögliche zu erledigen, bevor es zu spät ist. Für sie ist es nie zu spät, weil es nie spät wird.

Unsere Mitbewohnerin ist übrigens eine Stubenfliege. Eines von diesen Wesen, nach denen man normalerweise haut, ohne nachzudenken, weil sie einem auf die Nerven gehen. Als Einzelexemplar löst sie etwas anderes aus: Man nimmt sie plötzlich wahr, gewöhnt sich an sie und spürt eine seltsam ganzheitliche Zuneigung. Der Haureflex ist allerdings tatsächlich tief verwurzelt: Manchmal taucht er kurz auf, wenn sie nach längerem Rückzug unvermittelt daherfliegt und sich mal wieder auf einer Hand niederläßt.

Man kann ihn aber beherrschen, diesen Reflex. Mal sehen, ob das mit anderen Reflexen auch geht. Dann hätten wir von einer Stubenfliege mehr gelernt als von dem ganzen Geschwerl da draußen oder vielmehr da drinnen in den Plappergeräten, das sich für die Elite der Menschheit hält. Und das wäre es wert, sich dieser winzigen, unscheinbaren Kreatur, die uns ein paar Wochen lang Gesellschaft geleistet hat, länger zu erinnern als all der Lauterbachs, Drostens, Wielers, Merkels und Söders, die ihr ziemlich egal waren.

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die meisten Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, wegen der Auftrittsverbote für Bühnenkünstler abgesagt wurden. Daher gibt es die Kolumne bis auf weiteres nur hier (und auf der In-München-Seite).

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