Belästigungen 16/2017: Haben Sie den Gorilla da drüben gesehen? Obacht, der bringt Sie in „Sicherheit“!

„Sicherheit“ ist ein begehrter Zustand. Den meisten Menschen, möchte man meinen, erscheint „Sicherheit“ erstrebenswerter als – nur zum Beispiel – berauschte Euphorie, verliebte Glückseligkeit und orgasmische Ekstase. Sonst käme die CSU kaum auf die Idee, auf ihre Wahlplakate lediglich zwei aneinandergeklebte Gesichter und dieses eine Wort zu drucken: „Sicherheit.“ Sondern sonst stünde da „Sex“ oder „Saufen“ oder „Liebe“ (was bei einer katholischen Partei ja nicht abwegig wäre).

Sicherheit ist ja auch schön. Jeder wünscht sich, sicher zu sein: Wer gerne arbeitet, mag seinen Job behalten. Wer nicht auf der Straße schlafen will, ist sich gerne seiner Wohnung sicher. Wer Hunger hat, wünscht sich was zu essen, wovon er weder krank noch dumm noch tot wird, das er aber dennoch bezahlen und irgendwo auftreiben kann. Blöd, daß ausgerechnet in diesen zentralen Punkten auf die politischen Parteien in unserem Land höchstens umgekehrt Verlaß ist.

Aber es gibt ja auch noch anderes, dessen man gerne sicher wäre. Zum Beispiel gefällt es niemandem, jederzeit von Autos totgefahren werden zu können. Fast noch weniger wünschenswert ist es, langsam, aber mit absoluter Sicherheit von Autos mit Ruß und Stickoxid vergiftet zu werden. Da wäre man gerne sicher. Dumm, daß ausgerechnet dieser zentrale Punkt „unseren“ politischen Parteien (die in Wahrheit die politischen Parteien u. a. der Autoindustrie sind) nur umgekehrt am Herzen liegt – statt die Vergifterei zu verbieten, wie man das selbstverständlich erwarten müßte, drucksen und mucksen, ducken und glucken sie herum und führen als Notbehelf (weil „Verbote“ in dieser Hinsicht generell verboten sind) den neudeutschen Begriff „präventive Gebote“ in die Sprache ein.

Also so in etwa: Weil wir nicht verbieten dürfen, daß jemand vorsätzlich umgebracht wird, erklären wir es im äußersten Fall einer wirklich schlimmsten anzunehmenden Lage für geboten, niemanden umzubringen, möchten aber auch niemandem einen Vorsatz unterstellen, selbst wenn er zu diesem Zweck manipuliert, fälscht, lügt und Kartelle bildet.

Sicherheit läßt sich auf diese Weise nicht herstellen, sondern höchstens Wischiwaschi. Weil aber der Bürger nun mal nach Sicherheit strebt und unter den gegebenen Umständen nicht mal sicher sein kann, daß ihm beim verängstigten Arbeiten und Wohnen nicht plötzlich die Hochhausfassade wegbrennt oder er einen Schlaganfall erleidet, weil er sommerlochbedingt unversehens mit der photographischen Darstellung kanzlermodischer Gräßlichkeiten und „blaublütiger“ Krampfgesichter vom „Grünen Hügel“ in Bayreuth konfrontiert wird, braucht es Ersatz.

Da lautet seit Jahrzehnten das Patentrezept: „Terror!“, weil das so hübsch nach Unsicherheit klingt. So will neuerdings die AfD „linken Terror stoppen“ und fordert zum „Antifa-Ausstieg“ auf. An sich eine pfiffige Idee, weil sich der Faschismus ohne Antifaschismus logischerweise sicherer fühlen kann. Allerdings tut man sich schwer, in Deutschland in den letzten Jahrzehnten oder überhaupt gemeingefährliche Beispiele für „linken Terror“ aufzutreiben, sieht man mal von den Umtrieben der RAF vor einem knappen halben Jahrhundert ab (die allerdings nicht unbedingt der Arbeiterklasse und Mittelschicht ein Gefühl der Unsicherheit vermittelten, sondern solche Selbstsicherheit, daß sie Lohnforderungen zu stellen wagten, bei denen heute vor schäumenden und flammenden Warnungen sofort die Zeitungskästen explodieren täten).
Drum wird der Terror im Normalfall diffuser schlicht als „Terrorgefahr“ bezeichnet und bleibt im Alltag konkret unsichtbar, weshalb sein Drohen und Lauern ohne Unterlaß beschworen werden muß. Terror, könnte man definieren, ist das absichtliche, systematische und planvolle Erzeugen von Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Da könnte man fragen, weshalb der terrorisierte Bürger dann ausgerechnet die an die Regierung wählt, die ihn terrorisieren.

Aber das wissen wir ja: weil sie ihm im Gegenzug fürs klaglose Terrorisierenlassen „Sicherheit“ versprechen. Zum Beispiel die CSU, deren Herrschaftsgebiet übrigens eine Hochburg des Terrors war und ist, vom Mord am Ministerpräsidenten Eisner (1919) über die Organisation Konsul, SA, Bund Wiking, Wehrsportgruppe Hoffmann, Gruppe Ludwig bis hin zu Oktoberfestattentat und NSU-Morden. Was davon aufgeklärt und juristisch bestraft wurde, läßt sich an zwei Händen abzählen. „Stoppen“ ließ sich der Terror offenbar nie – wahrscheinlich weil er nicht „links“ war. Vielleicht weil ihn kaum jemand als Terror bezeichnete, schon gar nicht offiziell oder im Wahlkampf.

Und genau daran sollten wir im Zusammenhang mit zwei Ereignissen von vor gut einem Jahr denken, die in unterschiedlichem Maße für Angst und Schrecken sorgten und sehr unterschiedlich eingeordnet wurden: Am 19. Juli 2016 wurden in Würzburg fünf Menschen verletzt, als ein offensichtlich Irrgewordener mit Axt und Messer auf sie losging. Am 22. Juli stieg ein rechtsradikaler Rassist im Olympia-Einkaufszentrum auf ein Dach, erschoß neun Menschen und verletzte 35.

Welcher der beiden Fälle als „Terror“ in die offizielle Statistik einging und welcher anläßlich des Jahrestages geradezu manisch als „Amoklauf“ bezeichnet wird, ist leicht zu erraten, weil wir die die neudeutsche Sprachregelung kennen: Wenn ein (vermeintlicher oder echter) „Islamist“ (was immer das sein mag – ich habe bis heute keine verständliche Definition gefunden) Amok läuft, ist das Terror. Wenn hingegen ein Nazi Terror ausübt, ist das ein Amoklauf.

Terror, so lautet der Konsens weiter, ist eine Bedrohung für „uns alle“ und rechtfertigt flächendeckende Polizeikontrollen, Überwachungen, Abschiebungen, ganztägige Propagandaeinpeitschungen und die Verschärfung von Gesetzen und Strafen. Ein Amoklauf hingegen kommt halt mal vor, wenn einer nicht mehr ganz dicht ist, da kann man nichts machen. Der „Sicherheit“ schadet so was nicht, kommt ja eh kaum vor.

Deswegen braucht auch niemand erwähnen, daß es in Deutschland im vorletzten Jahr 13.846 rechtsextreme Straftaten mit etwa 700 Verletzten gab. Das war damals eine Steigerung von einem Drittel gegenüber 2014, man sollte also nicht zu viel Angst vor den Zahlen für 2016 und 2017 haben: Die werden schon ähnlich harmlos sein. Zumal unsere Polizei ja auch auf diesem Gebiet strikt und unbarmherzig vorgeht: 17 Haftbefehle wurden deswegen im selben Zeitraum ausgestellt und ein Teil davon möglicherweise sogar vollstreckt! Es könnte also sein, daß für knapp 14.000 Naziverbrechen tatsächlich fünf oder sieben Nazis irgendwann mal verhaftet wurden. Das ist doch mal ein echter Fahndungserfolg, bei dem wir uns gleich viel sicherer fühlen!

Da fällt mir ein weltberühmtes Experiment ein, das zwei US-amerikanische Psychologen vor einiger Zeit anstellten: Die spielten Leuten ein Video vor, in dem Menschen einander Bälle zuwarfen, und baten sie, sich die Zahl der geworfenen Bälle zu merken. Die Ergebnisse waren recht anständig – allerdings fragten sie ihre Kandidaten dann noch, wer den Gorilla gesehen habe, der mittendrin durchs Bild gelaufen war. Hatte kaum einer. Man sieht, so lautet der Schluß, nur das, worauf man hingewiesen und wozu man ermahnt wird.

Schönes Bild: eine Welt, in der pausenlos und unablässig imaginäre Terrorbälle durch die Gegend geworfen und gezählt werden, damit eine Sicherheit eintritt, und keiner merkt, daß derweil tausende Gorillas herumlaufen.
Was machen die da eigentlich, diese Gorillas?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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