Frisch gepreßt #394: The Popguns „Sugar Kisses“

Manchmal stößt man sehr unverhofft auf Sachen, die man längst kennen sollte. Zum Beispiel der Musikchronist, der seiner Pflicht nachgeht und sich alles, was man aktuell kennen sollte, tapfer und eisern anhört. Dem können sommerbedingt auch mal die Nerven reißen, wenn er an einem mit juniendetypischer Frische lockenden Traumtag im Alphabet bei „Lo“ anfängt und nach einer langen Stunde mit London Grammar und Lorde mal wieder ernüchtert feststellt, wie betrüblich, öde, lähmend und die Fantasie mit plastikschaumgefüllten Kissen im Halbschlaf stickmeuchelnd das alles ist, was ihm die Trendindustrie als führend, wichtig und prägend andrehen möchte.

Gähn! ruft er verzweifelt und wühlt, einer in solchen Momenten und Phasen oft erprobten Gewohnheit folgend, beiläufig in einer zufälligen Nische, in einer dieser zufälligen Nischen, in denen sich all das sammelt, was die Trendindustrie und ihre Verkündigungsbeauftragten aus dem Weg gekehrt haben, weil es halt nicht relevant ist und der Aufmerksamkeit der Zielmassen im Weg steht. Diese Nischen mag der Musikchronist, weil sie randvoll sind mit jeder Menge abseitigem, oft trashigem, hin und wieder aber auch permuttern schimmerndem Zeug, das sich früher im Plattenladen gerne in den irgendwo abseits der berechneten Normlaufwege herumstehenden Kisten sammelte und mit Eine-Mark-Preisschildern beklebt war.

Daß es diese Kisten (und die dazugehörigen Läden) nicht mehr gibt, ist schade. Aber die Nischen sind geblieben, mindestens virtuell, und da landet heute zum Beispiel auch ein Album der Popguns, von dem der Musikchronist mit großer Überraschung und leichter Errötung feststellt, daß es schon (oder andererseits: erst) das sechste einer Band aus Brighton ist, die es seit 31 (!) Jahren gibt (mit einer Ruhezeit von fast 15 Jahren allerdings). Wie konnte ihm das entgehen? Zumal zu den Gründungsmitgliedern ein ehemaliger Schlagzeuger von Wedding Present gehörte und bei diesem Namen sofort ein sehnsüchtiges Klingeln im Erinnerungsohr ertönt?

Dieses Klingeln steigert sich beim Hören zum sanften Sturm, zu einem linden Sommerwind, der Bilder heranweht von der melancholisch getränkten Jingle-Jangle-Psychedelik der späteren 80er, als der Begriff „Indie“ das wurde, was er irgendwie bis heute ist: die ungefähre Bezeichnung für junge, an der Trendindustrie desinteressierte Menschen, die Gitarren und Schlagzeuge spielen und singen, als wäre 1967 nie vergangen. Bilder in diesem Fall auch von den Go-Gos, den Primitives, Bangles und den frühen Blondie (bis Seite eins von „Autoamerican“), weil die so wunderbar schön und gut waren und man das immer wieder vergißt beim Dahinrasen auf der Autobahn der Aktualitäten.

Das liegt vor allem an Sängerin Wendy Morgan, deren durchaus prägnante Stimme so viele Debbie-Harry-Chromosomen enthält, daß man hier und da sogar melodische Wendungen zu erkennen meint, ehe man sich wieder verliert in von perlmuttern schimmernden, herzreißend verhallten, zeitlos altmodischen Gitarrenbögen getragenen Tagträumen.

Zugegeben: Es mag ein bißchen dauern. Der einleitende Titelsong verstrahlt die Art liebenswerter, aber harmloser Süße und Fast-Beliebigkeit, die schon damals in vielen Fällen dafür gesorgt hat, daß schöne Platten ungehört in der Eine-Mark-Kiste landeten. Aber spätestens mit „A Beaten Up Guitar“, mit „Fire Away“ und dem sicherlich selbstironischen „Finished With The Past“ findet selbst der Hartherzigste drei neue Lieblingssongs für einen endlosen Sommer der Fantasie. Und ein Lieblingsalbum, das wiederum eigene Nischen hat, in denen sich Sachen wie das zärtlich-hymnisch schwebende „The Outsider“ und das stürmisch euphorische „Gene Machine“ sammeln, die man beim ersten und vielleicht auch noch beim zweiten Hören möglicherweise gar nicht wirklich bemerkt.

Die Pflicht? Ist dann vergessen, weil der Musikchronist zu tun hat in den Nischen, wo sich irgendwo noch fünf weitere Popguns-Alben sowie diverse Singles, EPs, Split-Flexis und Kompilationen verbergen müssen, von denen er sich auf keinen Fall sagen lassen möchte, er kenne sie nicht (längst).

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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