Als ich ein kleiner Bub war, hatten wir jede Menge Ideen, die meistens nicht den Beifall der Erwachsenen fanden. Das mag die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben, die für uns jedoch auf einen einzigen, immer gleichen Grund zusammenschnurrten: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und wollen uns unser Menschenrecht auf ein unbeschwertes, spaßiges Leben verweigern!
Ob wir ein gefundenes Fünfmarkstück sofort in fünfzig Kugeln Eis umsetzen, auf Bäume hinauf- und unter Zäunen hindurchklettern, ein Schrottauto zu einem Indianerlager umbauen, mit Kartoffelpistolen auf Passanten schießen, unser Fußballtor (zwei Jacken) direkt vor dem Hauptfenster eines Großraumbüros installieren, Aschentonnen nach wertvollen Dingen durchwühlen, in den Lüftungsschächten eines Rohbaus herumrutschen, hartgekauten Kaugummi im Backrohr wieder weichrösten, statt Hausaufgaben lieber zum Baden fahren, unsere Klappräder mit Wasserfarben anmalen, uns sonntagmittags über drei Balkone hinweg neue Glamrockplatten vorspielen, nachts Edgar-Wallace-Filme anschauen, die halbgrüne Ernte eines ganzen Zwetschgenbaums auf einmal essen, in der Tiefgarage ein Lagerfeuer entzünden oder Ende November in der kurzen Hose in die Schule gehen wollten – immer war jemand dagegen.
Nun gab es unter den Erwachsenen drei Phänotypen. Erstens: der Strenge. Der verhinderte alles durch kategorisches Verbot, Gebrüll, Watschen und versperrte Türen. Diesen Typ fürchtete man, entzog sich ihm soweit wie möglich durch Flucht oder indem man ihm weiträumig aus dem Weg ging. Und darauf hoffte, daß niemand petzte, weil der strenge Typ (bei dem es sich erstaunlich oft um Angehörige des weiblichen Geschlechts handelte) nachtragend war und einen im Zweifelsfall präventiv für Sachen bestrafte, die man noch gar nicht angestellt hatte.
Der zweite Phänotyp war der Weise, der wie meine selige Oma zwar auch mal durchdrehen konnte und dem mitten in der Nacht bis zum Anschlag aufgedrehten Plattenspieler mit der Axt zu Leibe zu rücken drohte, ansonsten aber auf Selbstheilungskräfte vertraute: Dieser Typ zuckte die Achseln, ließ uns nach einem kurzen Hinweis auf die absehbaren Folgen nach Herzenslust Fußball spielen, Zwetschgen essen und Kaugummi rösten, zuckte dann, wenn die Scheibe kaputt, der Bauch gebläht, die Finger verbrannt und sonst was kaputt war, noch mal die Achseln und fragte höchstens: „Und, ist’s jetzt besser?“ Diesen Typ bewunderte man, auch wenn man’s nicht zugeben wollte, weil er offenbar die Welt verstand und irgendein Geheimwissen hatte, mit dem er aber nicht auftrumpfte oder sich mit Radau und Repressalien durchzusetzen versuchte.
Und dann gab es noch die vermeintlich verständnisvollen, pseudoabgeklärten Mahner. Das waren die schlimmsten, weil sie in Wirklichkeit überhaupt kein Verständnis, keine Contenance und von den meisten Dingen auch keine Ahnung hatten und nicht etwa mahnten, sondern forderten, und zwar ohne Widerspruch, und zwar so lange, bis sie sich restlos durchgesetzt hatten. Diese Leute hatten auch dann, wenn man wirklich ein Problem oder Hunger oder Bauchweh hatte, nur ihr überhebliches Mahnen zur Besonnenheit (oder so) drauf, weil sie in Wirklichkeit bloß möglichst ungestört und unbehindert ihr eigenes Süppchen kochen und ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten.
Das wollen sie bis heute, wo sie nach diversen Studien und Karrieren in Funktionen, Parteien und Redaktionen herumsitzen, den etwas höhergestellten Lakaien des Geldadels den Hintern pudern und mit pseudoabgeklärtem Blick auf die Welt da drunten mahnend den manikürten Zeigefinger heben. Wenn sie doch mal in einen Konflikt hineingezogen oder mit einem Skandal konfrontiert werden, zeigen sie sich „betroffen“ und wissen alles von vornherein besser, ohne sich die Situation auch nur anzuschauen. Und wenn sie sich ausnahmsweise mal nicht durchsetzen, prangern sie hinterher das dräuende Weltende an, mit dem sie sich aber meistens nach zwei Tagen gewinnbringend und hinternpudernd arrangiert haben. Im Englischen nennt man dieses Verhalten „patronising“, was sich auf deutsch mit „herablassend, gönnerhaft, bevormundend“ nur unzureichend übersetzen läßt. Nennen wir die Typen heute mal Patronisierer.
Solche Typen trieben uns damals in ihrer Ignoranz und ostentativen Überheblichkeit zur Weißglut. Bei denen machte man jeden Blödsinn erst recht, und zwar noch viel schlimmer, und wenn sie das hinterher monologisch „ausdiskutieren“ wollten, streckte man ihnen die Zunge raus und schaltete den Trotzgenerator auf Volldampf.
Als ich ein kleiner Bub war, gab es ein paar Strenge, vor denen man flüchten, und kaum Weise, die man bewundern konnte. Dafür wimmelte es nur so vor Patronisierern. Vielleicht reagiere ich deswegen heute noch mit weißglütigem Trotz, wenn man mir (oder sonst wem) auf diese Weise kommt. Wenn man zum Beispiel dem US-amerikanischen Wahlvolk erst alle akzeptablen Kandidaten wegkorrumpiert, ihm dann eine kriegstreiberische Wall-Street-Sprechpuppe, die in wenigen Jahren hunderte Millionen angescheffelt hat, als einzige „vernünftige“ Möglichkeit vorsetzt und, um absolut sicherzugehen, einen tourettekranken Kläffdackel dagegenstellt mit dem Hinweis, man solle doch nicht so verstockt tun, sondern wenigstens „das kleinere Übel“ wählen.
Da hätte ich als kleiner Bub die Zunge rausgestreckt. Da hätte ich mich gefreut, wenn die Patronisierer noch am Tag der Wahl mahnend (und leise schlotternd) auf die Titelseite ihrer Zeitung geschrieben hätten: „Hillary Clinton muß um den Sieg zittern“ – als wäre dieser Clintonsieg ein Naturgesetz, dessen Geltung nur Deppen in Frage stellen. Da hätte ich möglicherweise sogar laut gekichert, wenn die Patronisierer mit ihrem scheinbar unfehlbaren Plan dermaßen auf die Schnauze gefallen wären, daß sie und ihr gläubiges Fußvolk, dessen größtes Problem die Verfügbarkeit von Smoothies in Konzernkantinen ist, hinterher vor lauter „Betroffenheit“ zehn Kilometer Facebook volljammern und -jaulen müssen. Und vielleicht hätte ich als unmittelbar Betroffener mir den Spaß gemacht und auf meinem Wahlzettel weder das eine noch das andere Übel angekreuzt, sondern einfach „Ätsch!“ draufgekritzelt.
Weil nämlich die mahnenden Patronisierer auf dem politisch-medialen Feld nichts anderes sind als eine eiskalte, eisenharte, neoliberale „Gated Community“, die um nichts anderes besorgt ist als um ihren eigenen Arsch und die sich um die Interessen, Nöte, Wünsche und Bedürfnisse der Leute, denen sie ihre Dienstwagen, die Vierzimmerresidenzen in der Maxvorstadt und das abendliche Schlückchen im „Schumann’s“ verdankt, einen vertrockneten Vogelschiß schert. Man kann aber selbst dem bestdressierten Hund nur ein paarmal das Fell über die Ohren ziehen, ohne daß er in die Hand, die behauptet, ihn zu füttern, hineinbeißt, selbst wenn er ahnt, daß dadurch nichts besser wird.
Mag sein, daß Trotz kein guter Ratgeber ist. Mag aber auch sein, daß es in einer Welt, in der es offenbar keine Weisen mehr gibt und die Patronisierer dermaßen penetrant aus allen Kanälen blöken, zumindest Spaß macht, ihnen mal die Zunge rauszustrecken. Hinterher, wenn die Wutluft draußen ist, besinnt man sich. Vielleicht besinnen wir uns eines Tages sogar auf etwas vollkommen anderes als die größeren und noch größeren Übel, die die uns zur Auswahl vorsetzen wollen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.