Frisch gepreßt #372: Ramones „Ramones (40th Anniversary Edition)“

„One Two Three Four!“

(Womit die kürzeste Schallplattenrezension der Welt an genau der Stelle zu Ende wäre, an der alles gesagt ist: vier Männer in vier Kleidungsstücken – Jeans, T-Shirt, Lederjacke, Turnschuhe – spielen in vier Tagen das größte Popalbum aller Zeiten und eines der prägendsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte ein; es dauert vierzig Jahre, bis die Welt das verstanden hat. Aber wir wollen noch ein bißchen erzählen.)

„Was Gott nicht gefällig ist, das tilgt er von seinem Erdboden!“ – Mit (ungefähr) diesem wohl erfundenen Bibelzitat rechtfertigte sich ein Religionslehrer „ironisch“ dafür, daß er mir ein unter der Bank „verstecktes“ Donald-Duck-Heft abnahm und es dem Papierkorb überantwortete. Daran sind drei Dinge relevant: Die Geschichte, die ich zu diesem Zeitpunkt gerade las, hatte vier männliche Hauptdarsteller. Die vier männlichen Hauptdarsteller der hier erzählten Geschichte sind zu dem Zeitpunkt, da „sie den 40. Jahrestag ihres selbstbetitelten Punk-Meisterwerks feiern“ (Rolling Stone), alle vom Erdboden getilgt. Und: es war Sommer 1976.

„Bad Zeppelin“ – Ein Freund eines Freundes, der in einem Pasinger Plattenladen arbeitete, versorgte uns in den Sommerferien 1976 mit Neuerscheinungen, die er für „wichtig“ hielt. An diesem Tag hatte er eine Platte dabei, die nur als Import aus den USA erhältlich war und von der es daher wahrscheinlich in ganz München nur ein Exemplar gab. Sein Grinsen war „ironisch“: „Schau, Michi, das sind deine Brüder!“ Ich trug damals tatsächlich genau dieselbe Trotzmatte wie Dee Dee und Johnny, Turnschuhe, Jeans mit zerrissenen Knien und T-Shirt; die billige schwarze Plastikjacke hing draußen an der Garderobe. Beim Anhören der Platte glotzte die gesamte progressiv durchideologisierte Runde zunächst wie Busse, brach dann in ein kollektives Kichern aus, schlug sich auf die Schenkel und hielt sich die Bäuche. Ich, glühend errötet, kicherte nicht, sondern dachte: „Das ist es. DAS ist es!“ Aus naheliegenden Gründen traute ich mich nicht fragen, ob ich die Platte auf Kassette überspielen darf (es sollte fünf Jahre dauern, bis ich sie ganz hören konnte). Nach vier Liedern war Schluß mit dem Schmarrn, es wurde etwas von Octopus oder Led Zeppelin aufgelegt. (Das Wortspiel war die Begründung für die Ablehnung der Ramones durch den Plattenkonzern Warner, der das Album später vertreiben mußte; ha ha „Ironie“!)

„Es läuft nicht so gut, wir haben erst sieben Songs fertig“ – 1976 (und noch Jahre später) galten die Ramones als schnellste Band der Welt. Schnelligkeit war das Merkmal, das jedem an ihnen auffiel, vor allem jenen 99,9 Prozent, die ansonsten nichts mit ihnen anfangen konnten. Stimmt aber nicht. „Sound Chaser“ (1974) von Yes war zum Beispiel mindestens fünfmal so schnell, von „Fireball“ (Deep Purple) etc. zu schweigen. Neu oder vielmehr seit mindestens einer Generation unerhört war das komplette Weglassen bzw. Herausradieren von jedem Klimbim und Firlefanz; übrig blieb nur die pure Musik. (Die Einschätzung äußerte Johnny Ramone nach drei Stunden Studioarbeit in Sorge um das aus dem Vorschuß entliehene Geld; daß die Aufnahme einer Platte länger dauern konnte als die Platte selbst, war ihm völlig unverständlich.)

„Der Klang von 10.000 Klospülungen“ – Als „Ramones“ erschien, überschlug sich die gesamte Musik- und sonstige Presse und jeder, der sich irgendwie zu Musik äußern zu müssen glaubte, mit Spott, Schimpf, Moralpredigten und kulturpessimistischen Tiraden, in denen vom Neandertaler bis Adolf Hitler alles Erwähnung fand, was gegen irgendwas sprach. Es war der Chor einer Generationselite, die zehn Jahre lang daran gearbeitet hatte, sich ihre Deutungshoheit über eine sich stetig weiter entwickelnde und verfeinernde Jugendkultur zu sichern (in der nicht gelacht werden durfte und Absurdität, Widersprüchlichkeit, Zynismus und Minimalismus keinen Platz hatten) und der vier böse Buben den Hocker unter dem dicken Hintern wegzukicken versuchten. (Um zu verstehen, was für einen Bruch die Ramones bedeuteten, braucht man nur die „Humor“-Seite einer typischen Jugendzeitschrift von 1975 aufzuschlagen.) Sie haben noch mal Glück gehabt, die Deuter. Dachten sie und übersahen Johnnys rechten Mittelfinger auf dem Cover.

„One Two Three Four!“ – oder sagen wir: dreineinhalb. Weil es heutzutage ohne weiterführende Kaufanregungen nicht geht: Es gibt nur vier echte Ramones-Alben, davon sind die ersten drei für gute Menschen unverzichtbar, das vierte enthält immerhin zwei der schönsten Songs dieses Universums. Der Rest ist dies und/oder das, egal, wie alles andere ja sowieso auch.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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