Frisch gepreßt #369: Marvin Gaye „Volume Three – 1971-1981″

Das Leben geht manchmal viel zu schnell. Man dreht sich dreimal um, schon ist es dahin, eine Epoche vorbei, hat sich alles verändert, ohne daß man es bemerkt hätte oder auf einen Punkt deuten könnte, an dem etwas verschwunden wäre.

21. Mai 1971: Ein Berliner Gericht verkündet die Urteile im Prozeß um die Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader. Die meisten Beteiligten, auch Baader selbst, bereiten derweil im Untergrund einen Guerillakrieg vor und haben einen Monat zuvor ihr Manifest „Das Konzept Stadtguerilla“ veröffentlicht. In Umfragen bezeichnen 40 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung die Gruppe als „politisch“, jeder zehnte würde ein flüchtiges Mitglied bei sich verstecken. In Santiago de Chile lobt der geschäftsführende Vorsitzende der Nationaldemokratischen Partei der DDR die sozialen und wirtschaftlichen Reformen des neu gewählten Präsidenten Salvador Allende, während in der SED diesbezüglich von „ultralinken Erscheinungen“ und „linksradikalen Abweichungen“ die Rede ist. Die USA verstärken die Bombardierung von Nordvietnam, während Richard Nixon als erster US-Präsident einen Besuch bei Mao Zedong vorbereitet. Marvin Gaye veröffentlicht sein Album „What’s Going On“, auf dem er singt: „Father, father, we don’t need to escalate, you see, war is not the answer, for only love can conquer hate.“

15. Januar 1981: In Brooklyn stirbt der 92jährige Emanuel Celler, der fünfzig Jahre lang US-Kongreßabgeordneter war und sich während dieses halben Jahrhunderts unablässig dafür einsetzte, Flüchtlingen und politisch Verfolgten die Einreise und Einbürgerung zu ermöglichen und zu erleichtern. Der von ihm initiierte „Immigration and Naturalization Services Act“ von 1965 gilt als historischer Meilenstein und ist nebenbei einer der größten Erfolge der US-Bürgerrechtsbewegung. Am Tag von Cellers Tod erscheint Marvin Gayes letztes Motown-Album „In Our Lifetime“, auf dem er singt: „Home is where you live and play and laugh and be happy.“

Juni 2016: So gut wie die gesamte Welt führt Krieg, privat und militärisch, sportlich und wirtschaftlich, individuell und kollektiv. Ein amerikanischer Präsidentschaftsbewerber verspricht seinen Wählern die Errichtung einer Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko. Auf deutschen Straßen, in deutschen Parlamenten und Medien grölen, hetzen und wüten „besorgte Bürger“ gegen Einwanderer und Flüchtlinge. Ein jugendlicher Zufallspassant antwortet auf die Frage, ob er wisse, wer Marvin Gaye war, erst mit einem Kichern (der Nachname!), dann mit einem Achselzucken und setzt den Kopfhörer wieder auf, in dem blecherne Maschinenstimmen zu blechernen Maschinengeräuschen etwas von „fun“ und „body“ plärren. Alle namentlich erwähnten Personen sind tot und weitgehend vergessen, auch Marvin Gaye, der am 1. April 1984 nach einem Familienstreit von seinem Vater erschossen wurde (mit einer Waffe, die er ihm zu Weihnachten geschenkt hatte) und dessen ehemalige Plattenfirma ohne besonderen Anlaß seine sämtlichen 22 Alben der Jahre 1961 bis 1981 in drei Boxen packt und für umgerechnet nicht ganz dreieinhalb Euro pro Platte verkauft.

Ohne besonderen Anlaß? Braucht es einen Anlaß, sich daran zu erinnern, daß in der Welt alles mit allem zusammenhängt, alles allem widerspricht, daß es eine Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit gibt, die weit über Reklame für Dessous und aromatisierten Beuteltee hinausgeht? Dann nehmen wir die dritte dieser Boxen, hören einen ganzen Tag lang nichts anderes als diesen genialischen bis genialen, manchmal an den eigenen Ansprüchen grandios gescheiterten Hexenkessel aus Funk, Sex, Soul, Blues, aus Philosophie, spiritueller Sehnsucht, Trauer, Wut und Freude, aus Blut, Schweiß, Tränen und Geist.

Und stellen fest: Das Leben geht manchmal viel zu schnell. Aber nicht alles geht verloren. Man muß nur bisweilen wissen, wo man suchen muß.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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