Es gibt Gegenstände, die müßten, wenn sie mit der Post verschickt werden sollen, in ein unbemanntes Raumschiff gepackt und per Wurmloch durch 47 Dimensionen gejagt werden, wodurch ein elementarer Reinigungsprozeß in Gang gesetzt wird, der alles zerblippen läßt, was die reine Substanz verschleiert. Musik, etwa: Am Ende landete in zeitloser Ewigkeit das schimmernde UFO in ortlosen Räumen, bepackt mit einer kleinen Box mit ganz wenigen silbrigen Scheiben, die fast alle das Signet „Wire“ tragen.
„Was tut eigentlich der Sailer gerade? Muß man sich kümmern?“
„Ach, der … O wei! Er hat schon wieder ein neues Wire-Album gefunden! Nehmt ihm die Tastatur weg! Schaltet sein Gehirn ab!“
„Zu spät, die Archive sind geöffnet … er ist schon beim Remix.“
Reise durch ein Paralleluniversum, in dem Wire fast alles und fast alles Wire ist: Wer dieser … „Band“ ist ein unangemessener Begriff; sagen wir: Wer diesem Phänomen in einem günstigen Augenblick verfällt, findet sich Jahrzehnte später vor einem Schrank wieder, in dem hunderte Platten aus den Jahren 1977 bis heute lagern, die irgendwie mit Wire zu tun haben, offizielle und halboffizielle, Experimente und Klassiker, Nebenprojekte, Ausflüge, Solosachen, Kooperationen, dies und das und noch was anderes, Material genug für ein Leben voller Klang, von dem nicht ein Ton uninteressant, langweilig, uninspiriert ist. In dem ein Monolith wie „Manscape“ (1990) als einer der unteren Standanzeiger herhalten muß, weil darunter nichts ist.
Dabei ist fast alles schon gesagt und läßt sich aber ad nauseam wiederholen, ohne an Relevanz zu verlieren. Eine der wichtigsten Grundregeln der Popmusik lautet: Nichts ist so alt wie das Neue von gestern. Stimmt, manchmal ist das Alte von gestern neuer (und spannender) als das Neue von heute, aber kaum etwas bleibt, wenn es alt wird, immer neu. Oder nichts, außer Wire. Deren erste Alben (1977/78/79) sind drei der wichtigsten Tondokumente des 20. Jahrhunderts, aber wenn man sie heute hört, ist der Effekt der gleiche wie damals: eine Mischung aus Befremdung und Faszination, die man so nicht kennt; man gleitet daran ab und wird zugleich magnetisch hingezogen, man spürt: Das ist neu, ABSOLUT neu, und wird es immer bleiben.
Wire galten 1976 als Punkband. Ob sie je eine Punkband waren, wer weiß: Sie waren einerseits zu alt (jedenfalls: über 18), andererseits schnell und kurzhaarig genug; sie waren viel zu intelligent und andererseits nicht ganz so clever. Sie konnten kein Instrument spielen, als sie anfingen, nach ein paar Monaten konnten sie es aber besser als die meisten (monomanisch und antivirtuos) – dank einem Probenmarathon, der dem späteren „Saufen statt schuften“-Punk-Ethos komplett widersprach. Den situationistischen Grundgedanken, der Sex Pistols und Clash prägte, verstanden sie ganz anders (vielleicht besser). Man könnte New Wave sagen, wenn dabei nicht manch Verblendeter an Blondie und The Knack dächte.
Aber egal wie man die ungewöhnlichste Pop(!)-Gruppe ihrer (und unserer) Zeit einordnet: Es bleibt die Musik, die Worte überflüssig macht. Diese Musik hat in vier Jahrzehnten nichts von ihrer Energie, ihrer aufregenden Schönheit, Radikalität und Kraft, der enigmatischen Romantik, Strenge und kühlen Eleganz verloren – schon bei den ersten Tönen des Titelsongs ihres neuen Albums füllen sich Körper und Geist mit dem unvergleichlichen Wire-Gefühl: als säße man auf einer rasenden Rasierklinge, auf deren Schneide die Zukunft Gegenwart wird. In dieser Musik liegt eine unfaßbare, unerhörte, alles überstrahlende Schönheit, die völlig autonom funktioniert und nur ihrem eigenen System folgt, die wirkt wie eine erste große vergebliche Liebe, entkörpert zur reinen Substanz.
Die man früher gerne für sich behielt: Wire waren kein Fall zum Diskutieren und Schwärmen, weil man das Gefühl nie loswurde, irgendwas daran noch nicht ganz kapiert zu haben. Auch diesmal, wieder und mehr als auf den vorhergehenden Werken seit der sensationellen „Wiedergeburt“ 2002, gerät bei aller weisen Milde und Ruhe („Forward Position“!) jede Bewegung zur historischen Geste und jeder Ansatz zum Extrem; es entsteht ein Kaleidoskop faszinierender Höhepunkte zwischen architektonisch konstruierten Großgebilden, zerbrechlichen Kleinstmelodien, zwischen grandioser Erhabenheit, uneingeschränkt tobendem Vorwärtssog und einem Wagemut, der vor der vollkommenen Zerstörung nie zurückschreckte, auch der eigenen übrigens, die immer schon zwangsläufig erschien: Als einst das dritte Album „154“ mit „40 Versions“ verklang, rätselte man (und rätselt man beim Wiederhören) bis heute vergeblich, wie Musik noch weiter gehen sollte, obwohl man die Antwort kennt.
Der Weg, den Wire gingen, war stets verschlungen, konsequent und immer überraschend. Inzwischen gönnt sich die … na gut: Band, wenn etwa „Numbered“ das erste Album „Pink Flag“ zitiert und zugleich übermalt, ein verstecktes, freundlich-nonchalantes Lächeln über das Unvermeidliche, was sie seit Jahren selbst betreibt: klassisch zu werden, ewig endlich und endlich ewig. Jeder Gedanke, den man bei, nach dieser Musik faßt, ist klar, rein und leuchtend.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.