Belästigungen 09/2016: Vom „Grundkonsens“ und der Vernunft des Bärlauchs (ein Frühlingsidyll)

Aprilfrühling in München: Mit flammenden Gesichtern und sorbetgefrosteten Rückseiten flaniert man durch die waldmeisterzart ergrünenden, zwecks Gemütserbauung in den Moloch gefrästen Anlagen und bildet sich Meinungen.

„Ich“, sagt F und blinzelt fast hörbar, „weiß manchmal nicht, was ich denken soll.“

„Man soll nichts denken“, sage ich mit knackendem Fußgelenk. „Also: denken sollen tut man nichts. Nein: Etwas denken sollen. Herrgott, Wörter sind manchmal renitente Tracken! Die Gedanken denken sich selbst, sozusagen, irgendwie.“ Ich deute auf ein eigensinniges Bärlauchblatt, das sich abseits der Meute seiner Artgenossen zwischen erstaunten Grashalmen aus dem Boden reckt.

„Stell dir vor, der da denkt sich, während er noch in der Erde herumzwiebelt: Ich weiß nicht, wie ich wachsen soll!“

„Das ist was anderes!“ sagt F, trotziges Kind. „Beispiel: private Altersvorsorge. Was soll ich da denken?“

„Nichts“, sage ich. „Wenn man nicht weiß, was man denken soll, bedeutet das Alarm: Manipulation!“

„Aha“, Skepsis umflirrt sie wie gefrorener Nebel, „und wie soll das gehen? Wenn ich mich doch informieren kann?“

„Ganz leicht: Man bildet einen sogenannten ‚Grundkonsens‘, auf dem alle deine ‚Informationen‘ beruhen. Das ist die unbedingt notwendige Basis für wirksame Manipulation. Zum Beispiel schreibt eine führende Tageszeitung so was wie: ‚Klar ist, daß private Altersvorsorge alternativlos ist.‘ Oder: ‚Alle sind sich einig, daß es ohne private Altersvorsorge nicht geht.‘ Damit wird aus einer offensichtlichen Lüge ein ‚Grundkonsens‘. Ab dort wird dann weiterinformiert und -diskutiert, und weil die Meinungen scheinbar so unterschiedlich sind, bemerkt niemand mehr, daß der Grundkonsens eine Lüge und damit die ganze Diskussion von vorneherein komplett irrelevant ist. Das nennt man Manipulation: Alle denkbaren, vernünftigen, plausiblen, notwendigen Vorschläge und Möglichkeiten von Anfang an ausschließen und nur eine einzige zulassen, die von mächtigen Mächten gefordert wird. Und dann so tun, als gäbe es auf Grundlage dieses einzigen, alternativlosen Irrwegs unterschiedliche Möglichkeiten der ‚Ausgestaltung‘. Das ist die Wahl zwischen Leberkrebs und Magenkrebs, und wenn man in solche Diskussion hineingezogen wird, soll man nichts denken und auch nichts sagen. Außer: Wo ist der nächste Biergarten?“

F schlendert eine Weile dahin, chic desillusioniert, umflort von eisig-diamantenen Sonnenstrahlen.

„Aber“, sagt sie dann, „man kann doch den sogenannten ‚Grundkonsens‘ in Frage stellen, nein?“

„Nein. Der Mensch unterscheidet sich vom Bärlauch durch die fehlende Vernunft. Deshalb ist er überhaupt empfänglich für sogenannte … hm, ‚Grundkonsense‘. Oder -senten. Oder -senses, -sensis, Himmelarsch, da müßte ich jetzt den B anrufen, um in dieser Hinsicht einen Grundkonsens herzustellen.“

„Du hast“, lächelt F, „die Anführungszeichen vergessen.“

„Absichtlich weggelassen“, lächle ich zurück, weil man einen Satz nicht lächeln kann und weil ich weiß, daß F weiß, was ich weiß: „Ein ‚Grundkonsens‘ ist das Gegenteil von einem ‚Grundkonsens‘.“

Aus der nahen Ferne weht zu unaufdringlich charmanter Zärte verdünnte Blasmusik durch die schauernden Zweige.

„Wäre der Bärlauch nicht so vernünftig“, sagt F, sich versinnend, „könnte ihm der Löwenzahn klarmachen, es sei alternativlos, daß er zukünftig nach unten wächst.“ Die Metapher zerpufft mit einem milde enttäuschten „Biff!“, weil sie sich ihrer selbst nicht würdig fühlt. Mir hat sie gefallen, aber Demut ist eine Tugend, deren Entfaltung man nicht hindern soll.

„Es gibt“, sage ich, „sowieso keine Altersvorsorge. Du kannst das, was du in dreißig, vierzig oder sechzig Jahren brauchen wirst, nicht irgendwo bunkern und dann wieder hervorholen und auch noch hoffen, daß es mehr geworden ist.“

„Wozu auch“, sagt F und läßt das Fragezeichen achtlos liegen. „Es ist ja genug für alle da. Man muß es nur verteilen.“ Am Horizont beginnen Wolken, sich fürs anstehende Dräuen einzukleiden: aschblau, bleigrau, probeweise warnender Blick. Ein grüner Zeitungskasten kreischt verzweifelt plärrend den „Grundkonsens“ des Tages, irgendwas mit „Riester“. Vergeblich; in unseren Ohren klingt die Musik der Klarheit und Liebe. „Altersvorsorge:“, singt F, „Iß keinen Dreck, arbeite keinen Dreck, beschäftige dich nicht mit Dreck, sei still und zufrieden und freu dich über den Tag. Für den heutigen Tag ist es vollkommen egal, ob ihm drei oder fünf oder tausend folgen. Oder kei-ei-ei-ner.“ Die Sonne schmilzt wie eine Kugel Vanilleeis.

„Das ist der Unterschied!“ erkläre ich in grotesk übertriebener Predigerpose einem zerknirschten Mädchen, das uns mit angstvollem Blick und sorgendem Schritt entgegenstrebt und den „Grundkonsens“ vor sich hin mantraiert, weil er sich nicht recht in ihr sich sträubendes Unterbewußtsein fügen will. „Wenn einer für den anderen zahlt, nennt man das ‚Altersvorsorge‘. Wenn einer für den anderen zahlt und ein dritter sich ein Fünftel davon krallt und in die eigene Tasche steckt, nennt man das ‚private Altersvorsorge‘. Frag den Bärlauch, was vernünftiger ist!“

Zu Tode erschrocken hält sich das Mädchen die Ohren zu und flieht; ihr Murmeln, nun fast so laut wie ein Hilferuf, übertönt das melodische Summen der Zwiebeln im Boden. Schon ist sie verschwunden in einer Chimäre, auf deren schimmernder Seifenblasenhaut sich das Wort „Zukunft!“ spiegelt.
Der Biergarten empfängt uns mit offenen Armen, leicht beschämt, weil auch hier ein grüner Kasten den „Grundkonsens“ plärrt.

„Kusch!“ sagt F, „du hast hier nichts verloren.“

Er, seiner Sendung gewiß, darf nicht weichen, aber am Tisch unter den Bäumen ist er nicht mehr zu hören, und hier: ist es endlich warm, und eine Meinung braucht man nicht.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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