Die Idylle vor dem Keller: Der Münchner und seine Biergärten

Auf die Frage, was das Münchner Wesen von anderen, spezifisch dem „preußischen“ – mithin nördlich einer ungefähren Linie Erding-Passau wesenden –, unterscheidet, weiß der Volksmund vielerlei Antworten, die an Qualifiziertheit oft zu wünschen übrig lassen oder gleich in ein Gegrantel und Geblecke hineinlaufen, speziell wenn man die Frage in einem Biergarten stellt. Es gibt jedoch auch höchst wissenschaftliche Versuche, sich dem eigentümlichen Phänomen zu nähern, daß „der Münchner“ ein so scheinbar ungreifbar gänzlich anderer Mensch ist als „der Berliner“, „der Wiener“, sowieso der Schwabe und überhaupt ein jeder. In solchen Erklärungsansätzen ist prominent – eben – von Biergärten die Rede.

Aber was ist überhaupt ein Biergarten? Die nächstliegende Definition – ein Areal unter freiem Himmel, wo Bier verzehrt wird – ist falsch. So etwas findet man auf dem ganzen Erdball überall, wo nicht Dauerfrost oder Wüstenödnis natürliche Grenzen setzen. Der Münchner Biergarten ist etwas vollkommen anderes, und daß heutzutage jeder Standlbetreiber neben seine Bude einen Tisch hinstellt und darüber ein Schild mit der Aufschrift „Biergarten“ befestigt, ist nur die typische Anmaßerei einer Zeit, in der jeder Schmarrn mit genügend Reklame etwas Angebliches wird, das der entwurzelte und desorientierte Mobilmensch gerne annimmt, weil er es nicht besser weiß.

Zu einem Biergarten im engeren Sinne gehört zunächst, historisch betrachtet, ein Keller. In solchen nämlich, einer regelrechten „Kellerstadt“, tief in den Isarhang hinein getrieben, von Kastanien beschattet und drum auch sommers eisig kalt, lagerte man seit etwa 1770 das Bier, das nur im Herbst und Winter gebraut werden durfte, weil es sonst unreif verdarb oder dem Brauer beim zünftigen Einschüren während der Hitzewelle sein Brauhaus abbrannte. Weil aber selbiger Brauer zuallermeist kein Krugrecht für den Münchner Stadtfrieden innehatte, stellte er, da er schlau war, vor seinem Keller Tische und Bänke auf und sparte sich somit nebenbei den lästigen Transport des Biers in die Stadt hinein, wo nun aber die Wirte rebellierten und beim König Max I. vorstellig wurden, der im Jahre 1812 schlichtend verfügte, die aufblühende Ausflugskultur dürfe von Juni bis September weiterhin florieren, in den neuen Gärten aber außer Bier lediglich Brot und Salz serviert werden.

Das ist heute nicht viel anders, lediglich sind aus dem Brot die bekannten, inwendig hygienischer Watte nicht unähnlichen Großbrezen geworden und mischt man den nicht auf selbige geklebten Salzverkrustungen Glutamat bei und verkauft sie als Schweinshaxen oder Würste, weshalb der echte Münchner seit eh und je seine Brotzeit selber mitbringt, was er einst mußte und nun, wo das Gewerberecht längst liberalisiert und sogar die Ostseemakrele als Steckerlfisch zulässig ist, immerhin noch darf.

Er darf es auch in jenem Biergarten im weiteren Sinne, der nun wirklich ein Areal ist, ein großes, ohne Keller zwar, wo ebenfalls ausgeschenkt, einstmals jedoch nicht über Brot und Salz hinaus bewirtet werden durfte, weshalb, wie der finnische Münchenreisende Johan Vilhelm Snellman aus dem Jahr 1841 berichtet, „umherziehende Weiber Käse und Rettiche feilbieten, und dann wird zu dieser einfachen Speise Bier in Mengen getrunken“. Aus denen gerne Unmengen werden – schließlich ist Bier in Bayern nicht nur ein wesentliches Lebensmittel, „das Element der Bayern, wie das Wasser das Element der Fische ist“ (wie Victor Tissot 1876 schrieb), sondern auch der Ursud sämtlichen sozialen Lebens. Im Biergarten wiederum ist dieses so urtümlich wie nur denkbar: „Von Tischtuch, Servietten und anderen Bequemlichkeiten ist keine Rede“, schreibt Snellman. „Messer bringt jeder selbst mit. Bedienung gibt es meistens auch nicht, sondern jeder geht mit seinem Bierkrug an die Theke, um sich ihn füllen zu lassen.“ Und zwar buchstäblich ein jeder, wie Otto Zierer für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg feststellt: „Wenn (…) der Professor neben dem städtischen Straßenkehrer, der königlich-bayerische Leutnant neben dem Studenten, der Handwerker neben dem Arbeiter auf der Bank sitzt, wenn die Keferloher Krüge zusammenstoßen und das Lied vom Alten Peter und das Prosit der Gemütlichkeit mehr gebrüllt als gesungen wird, dann sind alle nur noch Menschen. Da macht sogar der Mann aus Preußen keine Ausnahme, wenn er sich anzugleichen versucht. Niemand nimmt an der schwarzen Hautfarbe eines Negers oder am karierten Kilt des Schotten Anstoß. Alle sind Nachbarn und gehören zusammen.“ Höchstens ließ einmal ein Tagelöhner dem Prinzregenten am Ausschank den Vortritt. „Da“, so brachte es Friedrich Nicolai 1781 auf den Punkt, „wird dann viel geschwatzt, und man führt freche und freie Reden.“

Um diese Bedeutung der Biergärten wissen die regierenden Dynastien, seien es die Wittelsbacher, die Straußens oder die heutigentags die Interessen von Industrie-, Finanz- und Agrarmagnaten vertretenden CSU-Amigos, seit eh und je. „Biergärten“, bestimmt daher die in ihrer Art weltweit ziemlich einmalige Bayerische Biergartenordnung von 1999, „erfüllen wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen. Die Geselligkeit und das Zusammensein im Freien wirken Vereinsamungserscheinungen im Alltag entgegen.“ Dies ist die zweite wichtige Eigenheit des Münchner Biergartens, in dem es durchaus heute noch vorkommen kann, daß der Börsenfunktionär, per W-LAN mit den Schaltzentralen der Spekulationsblasenblähung verbunden, sein (vom echten Münchner nicht als Getränk anerkanntes) Apfelschorle Tisch an Tisch mit dem Neigerlzuzler genießt, der sich seine Frühstücksmaß aus den in der Eile stehengelassenen Resten (Neigerln) der Touristenkrüge zusammenschüttet.

Das ist indes nicht mehr die Regel. Längst hat sich die neofeudale Spreizung der sozialen Schere auch im Biergarten niedergeschlagen und das Milieu geprägt: Der Nymphenburger „Leistungsträger“ wandelt in den Taxisgarten, in der Menterschwaige steigt die Zahl der Krawatten stetig, und der erwähnte Zuzler treibt sich höchstens noch dort herum, wo er im Getummel der Touristenmassen unerkannt zu bleiben hofft. Zum Beispiel am Chinesischen Turm, einem der nach wie vor volkstümlichsten Münchner Biergärten, dessen zentrales Bauwerk ja einst errichtet wurde, damit das Volk auf andere Gedanken als eine in der Luft liegende Revolution komme.

Eine solche, wenn auch recht harmlose, fand dort übrigens tatsächlich einmal statt. Als sich der damalige Wirt dazu verstieg, die berüchtigten „Schwarzen Sheriffs“ einer privaten „Sicherheitsfirma“ (mit dem martialischen Motto „Ehre und Gerechtigkeit“) als Ordnungspersonal durch die Tischreihen paradieren und Platzverweise erteilen zu lassen, wuchs der Unmut der Stammbesucher und entlud sich schließlich an einem scheinbar harmlosen Ereignis: 1989 fanden sich ein paar afrikanische Musiker am Turm ein, die nach Genuß einiger Maß Bier ihre Trommeln hervorzogen und fröhliche Synkopen klopften. Das mißfiel dem Wirt, der Umsatzeinbußen fürchtete und vom Fenster seiner Residenz aus die uniformierten Schergen zum Einschreiten befahl. Als diese die Trommler des Areals verwiesen, erhob sich indes an sämtlichen Tischen im weiteren Umkreis ein ohrenbetäubendes rhythmisches Klopfen, Klatschen und Schlagen, das so lange anhielt, bis der Wirt in Sorge um sein Mobiliar den Rückzug der „Sheriffs“ anordnete, die seither am Turm auch nicht mehr gesichtet wurden.

Bei einer anderen, bekannteren „Biergartenrevolution“ (der die erwähnte Biergartenordnung entsprang) handelte es sich lediglich um ein Scharmützel der als „Gentrifizierung“ bekannten sozialen Umschichtung, bei der es immer wieder um die sogenannte Nachtruhe geht, derer die (leider meist siegreich) Klagenden gar nicht bedürfen, weil sie den morgendlichen Wecker höchstens stellen, um sich ins Fitneßstudio zu begeben. Das war ein leichtes Spiel: die Interessen der Großgastronomen an mehr Umsatz abzuwägen gegen den unnützen Schlaf einiger. Schließlich ging es ja auch nicht um Kultur (Musik, Kabarett, Theater etc.) – dieser zieht die bayerische Verwaltungsmacht im Streitfall stets die Nachtruhe vor, und zwar eisern.

Um elf Uhr abends ist seitdem Schluß, aber wann die richtige Zeit ist, einen Biergarten aufzusuchen, bleibt umstritten. Der wahre Münchner sagt: spätestens am frühen Nachmittag, weil abends das Geschwerl kommt. Gemeint sind die Neumünchner, die ihre Tage in Büros gepfercht verbringen, bei Sonnenuntergang mit Tischdecken und ungeheuren Ladungen Wurst und Mayonnaisemischungen daherströmen und einen ebenso ungeheuren Lärm (i. e.: Konversation über Berufspläne und Kinderwünsche) veranstalten, der jeglicher Gemütlichkeit entgegensteht. Auch hier gibt es Ausnahmen, etwa den Biergarten am Lerchenauer See, den grundsätzlich nur Anwohner aufsuchen und in dem man sich zu späterer Abendstunde, wenn der selige Blick über das spiegelglatte Wasser gleitet, in einen Märchenwald an der mittleren Riviera versetzt fühlt.

Einen Verhaltenskodex, wie man ihn seit Anbruch des neuen Biedermeier selbst in den minderwertigsten Szenebars und Mikrowellenrestaurants kennt und pflegt, gibt es im Biergarten definitiv nicht. Hier darf man weitestgehend, was man will: Krawatte, Hemd und Schuhe ablegen, lachen und singen, schmusen und streiten, Karten, Schach und Flaschendrehen spielen, noch die peinlichsten Junggesell(inn)enabschiedspeinlichkeiten absolvieren, den wildfremden Tischnachbarn zurechtweisen, wenn er einen Schmarrn zusammenredet oder seiner zu Betörenden haarsträubend falsche Fakten zu Münchens Historie und Gegenwart ins Dekolleté trumpft. Man darf auch – zumindest solange man sich nicht zu weit vom Stadtkern entfernt – in ortsfremden Zungen sprechen; für ein barrierefreies Anbandeln etwa am Chinesischen Turm empfiehlt es sich sowieso, mindestens die circa dreihundert Vokabeln des durchschnittlichen kalifornisch/texanischen Wortschatzes (von „you guys“ bis „pardee“) in angemessen quäkender Intonation vortragen zu können.

Indes sollte man bedenken, daß der Beruf eines Schankkellners kein leichter ist: Obwohl sich die meisten Münchner Biergärten mittlerweile in einen Wald von Hinweisschildern verwandelt haben, ist der gewöhnliche Kurzzugereiste nach wie vor weder willens noch in der Lage, zu erkennen, wo sich die Abgabestellen für Bier (zumal wenn sie nach Sorten differenziert sind, die er sowieso nicht kennt), diverse Ersatzgetränke, Speisen, die Pfandrückgabe und die Toiletten befinden, weshalb der Schankkellner heutzutage zusätzlich die Funktion eines unbezahlten Fremdenführers ausübt – mit im Verlauf des Tages entsprechend zunehmendem Grant, brummelnd bis schimpfend. Man sollte ihn daher nicht zusätzlich provozieren, indem man jedem Münchner von der Wiege an vertraute Fachbegriffe verhunzt und etwa „ein Mars“ oder „Mahs“ oder ähnliches bestellt. Die (!) Maß verdankt ihr Geschlecht dem Ursprung als Maßkanne und ist zwar eine Maßeinheit (bis zur Reichsgründung 1871: 1,069 Liter), wird aber – hier hilft ausnahmsweise die reformdeutsche Schreibung „Mass“ – hinten hinaus ebenso ausgesprochen wie das Faß, aus dem sie früher mal kam. Wenn einer das nach fünfmaligem Vorsagen nicht in den Sprechapparat hineinbekommt und höchstens das r bzw. h des ersten Versuchs etwas abmildert, hält man ihn nicht ganz zu Unrecht für renitent, aufsässig oder grundsätzlich deppert und behandelt ihn entsprechend.

Unter den Wirten waren einst echte Originale, die als Leuchtgestalten ganz allein einen Besuch ihrer Gärten reizvoll machten und weitere Reklame erübrigten. Etwa den selbsternannten „Kaiser von Deisenhofen“, Franz Xaver Kugler, dem manch einer die selbstgestrickte Legende, er habe an einem Frühlingssamstag 1922 aus Biermangel die Radlermaß erfunden, bis heute abnimmt. Weniger bekannt ist, daß Kugler als Wirt der gleichnamigen „Alm“ (ehemals eine Bude mit der Beschilderung „Kantine der Königlich-Bayerischen Eisenbahn“; später fanden dort zur Belustigung der bis zu 15.000 Gäste sogar Galopprennen statt) beim Einzug der Kapelle selbiger mit dem Taktstab voran zu paradieren pflegte und diesen so vehement auf den Boden rammte, daß er, als er 1935 versehentlich die eigene Zehe traf, an der daraus resultierenden Blutvergiftung verstarb. Aber vielleicht ist ja auch dies eines der vielen Märchen, die sich um ihn ranken.

Solche Individualfiguren gibt es in Zeiten der Groß- und Kettengastronomie nicht mehr; selbst die in den 80ern noch so beliebte wie gefürchtete Wirtin des dazumal idyllisch verwahrlosten Flaucher-Biergartens, die ihre Gäste mit lautem Blaffen disziplinierte und die Zeche mit zentimeterlangen Fingernägeln in die Kasse hackte, ist längst im wohlverdienten Ruhestand. So bleibt als Argument für den Besuch einzelner Biergärten eigentlich nur noch deren grundsätzliche Schönheit, eine ungreifbare Mixtur aus landschaftlichen Gegebenheiten, Hin- und Wegreiseweg, Architektur und Gestaltung – was bei letzterer vor allem den Verzicht auf das Zustellen des Gartens mit modernen Buden und Kinderspielgeräten bedeutet.

Ein seit Jahrzehnten beliebtes Spiel (um Anzeigenerlöse) der aus unerfindlichen Gründen immer noch als „Zeitungen“ firmierenden Münchner Reklamepostillen ist es, „Münchens schönste Biergärten“ zu küren oder küren zu lassen. Dabei kommen immer die aufs Treppchen, die sowieso jeder kennt und (als schlauer Münchner) seit Jahren meidet, plus als Feigenblättchen ein randständiger Außenseiter, der unlängst von einem prominenten Großwirt übernommen wurde und deshalb „Kult“ ist. Das hat sein Gutes: Die wirklich schönen Biergärten kennen nur die jeweils Eingeweihten; dem Touristen und beruflichen Interimsmünchner bleiben sie so verborgen wie die wirklich schönen (weil noch nicht von „Urbanauten“ und anderen „fun people“ zugesauten) Passagen der Isar.

Machen wir einen Kompromiß und empfehlen wir einen Biergarten, den eigentlich jeder kennt, aber mangels verkehrlicher Anbindung außer unmittelbar benachbart Wohnenden kaum jemand aufsucht: den bereits erwähnten Seebiergarten in der Lerchenau, wo man in annähernd mediterraner Atmosphäre direkt am See sitzt, umgeben von der idyllischsten aller denkbaren Gestaltungslandschaften, wo man Enten, Haubentauchern, Karpfen und Schildkröten bei ihrem müßigen Treiben aus nächster Nähe zuschauen kann und davon, obwohl im Hintergrund auf der Lasallestraße die Motorräder des Lone Star MC nostalgisch-rebellisch röhren, schon nach einer Maß so bezaubert ist, daß man erst nach der zweiten bemerkt, daß (auch) hier leider das ungenießbarste der Münchner Biere ausgeschenkt wird. (Ein zweiter Tip: Es gibt auch ein sehr gutes Dunkles.)

geschrieben im Juni 2015 für ein ADAC-Reisemagazin, dort stark gekürzt erschienen

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