Reisen im Regal (4)

Partei, staatliche Volksspaltereivorrichtung, (programmelnde Volkshängekommission, höchste Staatsmaschinenwalze), Spießbrüderschaft, Spießbruderei, Spießluderei, Volksschindluderei, Schindbruderei, staatserhaltende Kirche (…), Mehrheitsgaukelei der Minderheit (s. Majorität), Gesinnungsstall für Unmenschen, menschenschnappende Stimmfangreuse. Als Köder (s. Programm) dient ein möglichst unklares Fremd- und Erschlagwortgewölle (s. Schlagwort), dessen Er- und Verbrechung einem besonders gewaltvertrottelten Wortklauber (s. Wissenschaft) anvertraut wird. Nach der Köderung werden diese Schwarzweißwürste als verbraucht und überflüssig in die Ecke geschmissen (s. Schmiß). Jeder Parteiköder besteht aus den Falschgedanken, die in ihm verschwiegen werden. Denn auch die P. des Umsturzes (…) wollen sich den Staat als ihren Steuermilchkübel erhalten (…).
Ewald Gerhard Seeliger: Handbuch des Schwindels (1922)

Der Regen hat die Luft gewaschen. Man atmet freier, Millionen von Milliarden von Mikroben und Partikeln, die sonst in der Luft schweben, sind mit dem Regen niedergeprasselt und in die Kanalisation der Stadt geströmt; jetzt schwimmen sie zu den Tiber-Kanälen, und in zwei oder drei Stunden werden sie im Meer sein. Man muß von diesen natürlichen Waschungen durch den Regen profitieren, um zu atmen, aber schon fangen die Autos wieder an, die Luft von neuem zu verunreinigen; und schon atmen die Fußgänger die gute Luft wieder ein, um Millionen von Milliarden von Mikroben in Umlauf zu setzen.
Luigi Malerba: Die Schlange (1966)

Endlich hat Harry sein Stück vernichtet. Für die Aufführung brauchte man acht Stunden mit zwei kurzen Pausen. Alle Hauptpersonen sahen Harry ähnlich. Sie starben entweder durch Ersticken, Strangulieren oder Messerstiche. Harry hatte fünf lange Jahre an dem Drama gearbeitet …, er hatte sich damit herumgeschlagen und darüber gebrütet. Die Vernichtung des Stückes bereitete eine gewisse Befriedigung, die Befriedigung, die man empfindet, wenn man sich einen Finger abschneidet. Den wäre ich los …, jetzt brauche ich einen Nagel weniger zu schneiden. Es ist das zweite Drama, das Harry vernichtet hat. Wie viele Dramen trägt ein Mensch in sich?
Walter Abish: Das ist kein Zufall (1975)

In einem Land, in dem jeder mißtrauisch ist, ist offensichtlich jedermann ein Dieb.
Charles Baudelaire: Armes Belgien! (1864)

Kaum hat man irgendwo ein Wort über die Lust am Text gesagt, schon sind zwei Gendarmen bereit, über einen herzufallen: der Gendarm Politik und der Gendarm Psychoanalyse: als Nichtigkeit und/oder Vergehen ist die Lust entweder müßig oder nutzlos, sie ist eine Klassenidee oder eine Illusion.
Roland Barthes: Die Lust am Text (1973)

Daß die Schützen, ausgeschwärmet, grade nicht zum Spaße gehen,
Sondern, um dem Feind zu schaden, werdet ihr nun ein wohl sehn.
Braucht dabei euch nicht zu haben, als ob denn Parade wär’,
Ihr sollt stehend, liegend, knieend, nutzen können das Gewehr.
Bernhard Hase: Soldaten-Poesie. Instructions=Buch für den Infanteristen. Zum Selbst-Unterricht und zur Unterhaltung (1864)

Ich hatte in dieser Nacht viel getrunken, um reden zu können. Angeschwipst parliere ich flüssig in mehreren Idiomen, nüchtern vermag ich kaum meine Muttersprache zusammenzustottern. So sehr schäme ich mich zu sprechen. Und ich bin mir nicht einmal wirklich sicher, welche Sprache meine Muttersprache ist; alle sind ruiniert.
Svetislav Basara: Führer in die innere Mongolei (1992)

Doch zurück zu den Unlustgefühlen der Befragten. Sie stehen offensichtlich in Zusammenhang mit der ganz allg. Erfahrung (wie sie sich z. B. Auch in der öffentlichen Meinung niedergeschlagen hat), daß die Reise in den Süden, speziell eben die nach Italien, heute ganz anders als noch vor 5 Jahren keineswegs mehr als Erholung empfunden wird. Sie gilt heute als eisernes Muß. Bei den Interviewten war deutlich spürbar der Bräunungszwang als beherrschendes Motiv zu erkennen. Die Befragten machten deutliche Vorher/Nachher-Unterschiede. Es ist nicht übertrieben, hier von einer bipolaren Denkfixierung zu sprechen.
Alfred Behrens: Gesellschaftsausweis. SocialScienceFiction (1971)

Von der deutschen Unart, Geisteskraft ans falsche Objekt zu verschwenden, das Normale zum Ereignis aufzublasen, Akribie noch in das Einfachste zu investieren, zeugen die Anleitungen für die richtige Schäferhund-Fotografie.
Jürgen Bertram: Kamerad Hasso (1980)

Das Gesicht, das der Spiegel ihr zeigte, war wie erloschen, ohne Ausdruck. Um es so versteinern zu lassen, hatte eine Tragödie das ihre beigetragen.
Laura Bosio: Die Vergessenen (1994)

Es wäre immer noch nicht ausreichend bemerkt, wie Er, unter dem Druck seiner vielen armseligen Leiden, immer wieder entrückt wurde, vergäße Er die Lust, die vom Geist kommt.
Ludwig Marcuse: Nachruf auf Ludwig Marcuse (1969)

Gegen eine Verbindung von Kultur und Sport wäre dann nichts einzuwenden, wenn die Kultur den Sport kultivierte, es kommt aber immer umgekehrt, nämlich so, wie ich es bei unserem Verordneten im Bauausschuß wieder erlebte: daß der Sport zum Handikap der Kultur wird. Das Wort Körperkulturist für mich überhaupt der verkrüppeltste und verwachsenste Zwitter, den die deutsche Sprache kennt.
Alois Brandstetter: Altenehrung (1983)

Das Lied von Moltkes letzter Schlacht, das jetzt allenthalben bei deutschen Festen gesungen wurde, mochte Anton niemals mit anstimmen. Er schalt es roh und barbarisch. Jetzt dachte er nicht mehr an solche Rücksicht.
„Singt meinetwegen das wüste Kriegslied! Wir haben Krieg!“
Fritz Mauthner: Der letzte Deutsche von Blatna (1887)

Alles
meint unweigerlich
Tod.

Eine schiefe Ebene
mit Sicherheits-
wert.

Hier müßte man
Fehler einbauen.
Explosionen
rückgängig machen.

Beat Brechbühl: Forschung (1969)

Schlaft ruhig, tapfere Helden:
morgen wird der Mond eine Sonne
Breyten Breytenbach: Es lebe die Kommune vom Mai 1968! (1973)

Dies ist ein sehr unbefriedigendes und anstrengendes Leben, es wird bei längerer Fortsetzung wahrscheinlich zum Selbstmord führen.
Groucho Marx: Brief an Arthur Shreekman (1930)

Falls der gestrenge Herr eines Tages fragen wird: „Wer hat die Tinte vergossen?“, wie viele von uns werden dann aufstehen und ehrlich antworten: „Ich. Vergebens.“?
Wieslaw Brudzinski: Katzenjammer (1964)

„Die Souveränität im juristischen Sinne“, schrieb der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke, „die vollkommene Unabhängigkeit des Staates von jeder anderen Gewalt auf Erden, liegt dergestalt in seinem Wesen, daß man sagen kann, sie ist geradezu das Kriterium für die Natur des Staates.“ Die Kraft dieser Mystifikation ist ungebrochen, obgleich auf der Hand liegt, daß es Souveränität in diesem Sinne nie gegeben hat. Aus ihrer Idee folgt, daß der Staat jenseits aller Rechtsordnungen, nämlich über ihnen steht. Wer an ihr festhält, für den kann es ein Völkerrecht nicht geben. Souveränität und Völkerrecht schließen einander aus.
Hans Magnus Enzensberger: Politik und Verbrechen (1964)

Ach, was könnte uns die Kinderwelt alles für Mysterien und Wonnen erschließen, wenn wir nicht so abgestumpft und gemißbraucht wären von Sorge und Nachsinnen, oder andernfalls von Sinnenzerstreuung und Stolz, von Herzens- und Wissensstolz.
Bogumil Goltz: Buch der Kindheit (1847)

Eine Ironie des Krieges liegt darin, daß man so wenig Gemeinsames hat, außer der Opposition gegen die amerikanische Beteiligung – so weniges, das allen gemeinsam ist: den liebenswürdigen nordvietnamesischen Gastgebern und den Amerikanern, die als Freunde hierher kommen – Pazifisten, Liberale, junge Anhänger der neuen Linken, die sich alle in der Ablehnung jeder etablierten Autorität und im Widerstand gegen sie begegnen. (…) Vor uns, in Fahrtrichtung, ein Aufzucken am nächtlichen Himmel. „Ein Gewitter, oder was meinen Sie?“ – „Mag sein.“ Ein doppelter Blitz. „Es sieht wirklich wie ein Gewitter aus.“ – „Nein. Bomben.“
Mary McCarthy: Hanoi 1968 (1968)

3. März 1864: Wir gehen als Nichtmaskierte zum Maskenball bei Michelet, wo die Frauen als unterdrückte Nationen verkleidet sind: Polen, Ungarn, Venedig usw. Es kommt mir vor, als sähe ich Europas künftige Revolutionen tanzen.
Edmond & Jules de Goncourt: Blitzlichter

Ich fühlte mich reichlich mitgenommen und mußte mich zuerst einmal hinsetzen. Ich ließ mich in einen weichen Sessel fallen, der dienstbeflissen unter mir federte, und holte tief Luft. Die Uhr tickte, und es war, als führte sie ein vieldeutiges Zwiegespräch mit der Stille.
Alexander Grin: Die goldene Kette (1925)

Meine Tochter sagte, Mutter, du kommst spät, so spät,
Bitte bring mich weg. Es tut weh, es tut weh.
Bitte bring mich nach Haus. Aber es gab keine Häuser,
keine Ärzte, ich war machtlos.
Ian McEwan: Oder müssen wir sterben? (1983)

der bestand hängt von seinen teilen ab, die seine bestandteile bilden.
es gibt kein bestehen eines bestandes ohne die bestehenden teile, die den bestand ausmachen.
die steiermark aber bleibt bestehen.
Reinhard P. Gruber: Aus dem Leben Hödlmosers (1973)

Der Radioapparat ist verstummt. Heute morgen die Andeutung einer Stimme, schwach und unverständlich. Vielleicht wird Überleben in Teilen der südlichen Halbkugel möglich sein, vielleicht in einigen Tälern des Himalaja. Wahrscheinlich aber nicht. Das atomare Inferno hat nicht nur die Industriestaaten der nördlichen Halbkugel zerschlagen, sondern auch das synergetische Netz der Natur zerrissen. Milliarden von Tonnen radioaktiven Staubes haben die Atmosphäre verseucht, die werden als tödliches Gift niedersinken. Der Planet eine von giftigen Dünsten umhüllte Wüste. Das Experiment Mensch ist gescheitert.
Anton Andreas Guha: Ende. Tagebuch aus dem 3. Weltkrieg (1983)

Gleichzeitig ist das offenbar eine Lösung, für die man mit gewissen diskutablen Aufopferungen bezahlen muß.
Lars Gustafsson: Utopien (1969)

Die große Täuschung, daß der Spott etwas nütze. Den gemeinen Menschen bessert er nicht, er erregt nur seinen unversöhnlichen Haß und seine Rachsucht. Den Edlen aber verletzt er unter Umständen tödlich.
Theodor Haecker: Tag- und Nachtbücher (hier: 1940)

WAS SEIN MUSS, MUSS NICHT SEIN.
Michael Hatry: Aus lauter Liebe (1971)

Soldaten gegen Arbeiter – Soldaten im Einsatz zum Schutz der inneren Ordnung – Soldaten gegen Zivilisten – ist das neu in Deutschland? Nein – neu ist nur eins: Solche Methoden des Umgangs zwischen Staatsmacht und Volk Demokratie zu nennen.
Ulrike Meinhof: Notstand? Notstand! (1960)

Unsere Liebe zur Prognose beruht nicht auf ihrer Verläßlichkeit. Dafür gibt es mehr negative als positive Beispiele. Obwohl unsere Statistiker mit modernstem elektronischem Gerät arbeiten, vermochten sie weder ein so entscheidendes Ereignis wie die Ölkrise noch den Wahlsieg Reagans vorauszusagen. Wenn an all den Marktprognosen auch nur ein Funke von Verläßlichkeit wäre, so müßten seine Seher an den Börsen Millionen scheffeln, anstatt sich mit Prognosen ihren Unterhalt zu verdienen.
Trotzdem werden unsere Hochrechnungen auf die Zukunft zunehmen, und zwar in dem Maße, wie wir aus der klassischen Kulturgeschichte hinausgleiten.
E. W. Heine: Der neue Nomade (1986)

Danach begab ich mich mit dem Gefühl auf Heimreise, daß ein Kapitel abgeschlossen war – daß ich Deutschland wahrscheinlich nie wieder besuchen würde. Ich war bereits achtundfünfzig und mein Gesundheitszustand entsprechend. Überdies stand ein großer europäischer Krieg bevor, und es würde lange dauern, bis man wieder friedliche Reisen unternehmen konnte.
H. L. Mencken: Deutschland (1938)

Die Landstraße staubte. Der Staub war nicht zu sehen, aber sie spürten ihn in der Nase und auf der Zunge. Der Wald war dunkel, er sah aus, als gehörte er gar niemandem. Am Himmel standen Sterne noch und noch.
Vejio Meri: Quitt (1961)

Nach dem Stimmfang laufen die Spießhäuptlinge zum (Programm-)Bruch (s. Fraktion) zusammen und bilden bis zur nächsten Wahl eine völlig selbständige Volksmolkereibetriebsgenossenschaft. Kein Staatsmann hackt dem andern die Augen aus. Wenn die Kuh (s. Volk) unruhig wird, kriegt sie einen Maulkorb (s. Zensur). Deshalb wird ihr, will sie überleben, nichts anderes übrigbleiben, als die Milchzufuhr endlich ganz und für immer und ewig einzustellen.
Ewald Gerhard Seeliger: Handbuch des Schwindels (1922)

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