(periphere Notate): Mildern geht überhaupt nicht, du Täter!

Gelegentlich gerate ich in einen Zustand, den man als „intellektuellen Unterzucker“ bezeichnen könnte. Ich kann mich generell kaum dazu durchringen, Dinge zu lesen, deren Fortgang ich beim Lesen prognostizieren kann, während ich mich durch Wortgeröll vorwärtskämpfe (etwa Kriminalromane – mit Ausnahmen –, etwa die aktuelle „Literatur“ deutscher „Literaturverlage“). Im intellektuellen Unterzucker mag ich nur noch Texte lesen, die ich nicht verstehe. Dabei empfange ich alle paar Wörter oder Sätze winzige elektrische Schläge in Bereichen des Verstands, die ich nicht kannte (so wie man beim ziellosen Herumradeln in Gegenden der jahrzehntelang bewohnten Stadt gerät, die man nie gesehen hat). Ich verstehe dann plötzlich Dinge, die mit dem gelesenen (und nicht verstandenen) Text nichts und alles zu tun haben, und beim dritten Lesen verstehe ich den Text (anders als er gemeint ist).

Das ist eine Zufallsbeobachtung beim Lesen von Michael Esders’ Essay „Die verkannte Legitimität des Neuen – Über ein Syndrom der politischen Rechten“, den ich nicht verstehe, bei dessen stockender (zwei Schritte vor, drei zurück, drei vor, einen zurück) Lektüre mein Verstand blitzt wie ein an eine Schleifmaschine gehaltenes stumpfes Messer, während die weit (tief) darunter sitzende Intuition (ich verwende das Abstraktum, weil sie ihr Gesicht nicht zeigen kann) lose verwandte Sätze qualmt wie diesen. Das „bedeutet“ (mal wieder) alles gar nichts.

Die Meinung des Volkes, aufgeschnappt mitgeteilt von Britta und Hermann aus Berlin, die selbstverständlich nicht zu dem Zweck am Chinesischen Turm angereist sind, am Nebentisch die Stimme des Volkes hören zu müssen: „Deutschland baut eine Panzerfabrik in der Ukraine“, womit der Russe ja praktisch schon halb besiegt ist (und jedenfalls gänzlich der Deutsche, fügt der Zwangslauf der Gedanken bei). Sowie Joe „Demented are Go!“ Biden: der könne sicherlich mit hundertsechs (Jahren, nicht Gehirnzellen) auch noch regieren, „der macht das schon“.

An meinem eigenen Nebentisch wird über Wohlstandsprobleme disputiert, wobei die Floskel „während Corona“ immer noch widerspruchslos hinnehmbar ist. Den Rest des Gesprächs verstehe ich nicht, aber das liegt an den Voraussetzungen. Wobei man einwenden könnte: Bei Carl Schmitt und Hans Blumenberg ist der Grund der gleiche.

Ein sehr gutes Indiz für gefährdete Lügen sind inzwischen „Warnhinweise“ auf Facebook: Wann immer so etwas wie „Sieh dir an, wie sich die Temperatur in deiner Region ändert“ aufploppt, darf man davon ausgehen, daß der betreffende Post einen Nerv des falschen Narrativs getroffen hat. Summiert sich das, könnte man sich fast auf einer Art „Pfad zur Wirklichkeit“ wähnen. Oder wissen, daß man sozusagen auf dem Weg ist, diesen Pfad zu beschreiten.

Im Nachgang der antidemokratischen Skandaltirade, die der Steinmeier anläßlich des 75. „Geburtstags“ einer vorbildlichen, im Jahr 2020 (endgültig) zur Farce degradierten, seitdem aufgrund des Charakters solcher Grundsatzerklärungen nicht mehr herstellbaren und daher leider nur noch auf nostalgischem Papier existenten Verfassung ablassen zu dürfen glaubte, verstärkt sich der Eindruck, daß die sogenannte Demokratie – die Begleitfarce, mit der man in (West-)Deutschland nach 1948 der Herausbildung des Globalismus aus dem traditionellen Kapitalismus einen schmucken Rahmen zimmerte – in ihr drittes Stadium eingetreten ist: Als phantasiertes Ideal entstanden, verkam sie zunächst zur pervertierten Methode (der Herrschaft, die sich durch den symbolischen „Wahlakt“ – symbolisch, weil es ja nichts zu wählen gab – legitimiert fühlen durfte), die sich dann, als eben der Wahlakt der Herrschaft gefährlich zu werden schien oder drohte, die Maske vom Gesicht riß und nun sogar das ohnehin redundante Wahlkreuzltheater als „undemokratisch“ anprangert: „Kein mündiger Bürger kann sich auf mildernde Umstände herausreden, wenn er sehenden Auges politische Kräfte stärkt, die zur Verrohung unserer Gesellschaft und zur Aushöhlung der freiheitlichen Demokratie beitragen, meine Damen und Herren!“ bellte der Steinmeier und sagte damit: Es ist ein Verbrechen, das Kreuz an der falschen Stelle zu machen, und es ist ein bereits abgeurteilter Verbrecher („mildernde Umstände“ kann es nur nach dem Schuldspruch geben, wenn das Strafmaß verkündet wird), wer das tut.

Wer angesichts einer derartig unverschämten und antidemokratischen Anmaßung nicht Lust kriegt, aus reinem Trotz bei der nächsten Wahl nicht den Wahlzettel insgesamt durchzustreichen oder überhaupt lieber im Biergarten zu sitzen, sondern irgendeine wilde Schmuddelpartei anzukreuzen, die größtenteils aus V-Männern besteht, der sollte sich mal fragen, ob er nicht vielleicht „die Demokratie“ mit der Grundausbildung der US-Marines verwechselt.

Eines indes ist lustig und erschreckend zugleich: Es mußte schon mal ein Bundespräsident zurücktreten, weil ihm die Wahrheit über die Funktion der Bundeswehr herausgerutscht war (Köhler: mit illegalen Kriegen die Nachschubwege der deutschen Industrie zu sichern). Es mußte auch schon mal einer zurücktreten wegen einem geschenkten Bobby-Car (Wulff: Man frage mich nicht, um was es da ging). Daß ein Bundespräsident mit wenigen Sätzen vorsätzlich die gesamte freiheitlich-demokratische Grundordnung samt historischer „Verantwortung“, Verfassung und einigen weiteren Gesetzen aus den Angeln hebt, auf den Müll kippt und das auch noch in schäumender Wut auf die vermaledeiten Minderheiten tut, ohne daß auch nur ein einziger Kommentator der Staatsmedien vorsichtig den Finger höbe und einen kleinen Einwand hätte – das bringt wahrscheinlich sogar den sicherlich nicht sonderlich demokratieverdächtigen Vorgänger Hindenburg (ich bleibe bei diesem Vergleich) im Grab ins Rotieren.

Es ist mit einiger Sicherheit der größte Skandal, den dieses Land nach Hitler erlebt hat. Und es herrscht: absolutes Schweigen.

Man erinnert sich ja nicht mal mehr, daß derselbe Kerl sich seinen Rufnamen „Frank Spalter“ vor eineinhalb Jahren damit verdiente, daß er erbarmungswürdigen Senioren, die bei minus fünf Grad schweigend Kerzen durch Straßen trugen, über den Staatsfunk entgegenkläffte, sie hätten dem Spazierengehen seine Unschuld geraubt. Wie konnte es geschehen, daß ausgerechnet dieser moralisch verkommene mediokre Kleingeist (von dessen sonstigen kriminellen Verwicklungen ich heute schweigen will; man weiß das ja) zur Symbolfigur der faschistischen Restauration wurde? mag man sich fragen. Aber klar: Das waren ja immer gerne moralisch verkommene mediokre Kleingeister, von Wilhelm II. über Hitler, Himmler und Eichmann bis … eben. (Und um der historischen Gerechtigkeit willen wollen wir auch Walter Ulbricht und Erich Mielke nicht vergessen, denen möglicherweise andere Kriterien zuzubilligen wären, sei’s drum.)

Es mag übrigens niemand mehr über Covid-19 reden, vor allem nicht die, die endlich kriminalpolizeilich und gerichtsamtlich dazu gezwungen werden sollten und müßten, darüber zu reden. Das ist einerseits verständlich: Die Mitläufer sind ja in vielen Fällen auch die Geschädigten, die logischerweise nicht mit dem Finger auf Täter zeigen wollen, denen sie jubelnd hinterhermarschiert sind. Andererseits ist es tragisch, denn um sie – die geschädigten Mitläufer – ginge es ja bei der vergeblich geforderten Aufarbeitung nicht zuletzt. Immer mal wieder blitzt irgendwo verschämt eine Einsicht auf („Ja, das war wohl alles nicht ganz richtig“), oft befördert von Schlaganfall, Herzinfarkt, Nervenleiden und Turbokrebs im „besten Alter“. Für mehr ist wohl (von Ausnahmen abgesehen) die Scham (noch) zu stark, andernorts die „Wir haben alles richtig gemacht, und wenn ich daran zugrundegehe!“-Borniertheit. Es ist aber mindestens interessant, daß all dies genau zu einer Zeit geschieht, da die letzte Generation, die so was noch richtig erlebt hat (sagen wir: geboren zwischen 1920 und 1935) und der heutigen erklären könnte, was da mit ihr geschieht, das irdische Elend fast vollständig verlassen hat.

Ging es denen damals schon genauso (mit der Generation, die zwischen 1850 und 1865 zur Welt kam wie die Jungfrau zum Kind)? Ich fürchte: ja.

(Einige der heutigen Bilder sind etwas unscharf, weil sie zwar auf Google noch zu sehen, auf den entsprechenden regierungsamtlichen Seiten jedoch seit einigen Tagen offenbar nicht mehr zu finden sind.)

2 Antworten auf „(periphere Notate): Mildern geht überhaupt nicht, du Täter!“

  1. Erst wenn alle Verantwortlichen und die kapitalistischen Strukturen beseitigt sind, wäre überhaupt die Möglichkeit geschaffen ein echtes nachhaltiges Miteinander zu gestalten!

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