Neulich kam das Gespräch auf Elfriede Jelinek. Das ist freilich Unfug, weil Gespräche so etwas (kommen und gehen) nicht tun, aber jetzt mal egal: „Igitt! Wer hat denn das dahergebracht!“ hieß es jedenfalls. „Der soll es gefälligst auch wieder wegschaffen!“ Dies erledigte ich, indem ich sagte, daß es Frau Jelinek wahrscheinlich gar nicht gibt. Es handle sich dabei in Wirklichkeit um Stephen Hawking. Das konnte Daniel Kehlmann bestätigen: beide, Hawking und Jelinek, seien zumindest noch nie gemeinsam photographiert worden. Ich stellte die These auf, es sei grundsätzlich jeder, der noch nie gemeinsam photographiert worden sei, identisch. Juli Zeh, die ansonsten gerne mal meine Sätze zu lang und verwurstelt und überhaupt findet, lachte hier, weil ihr gar nicht auffiel, daß dieser Satz so verwurstelt war, daß er sich – pliff! – in nichts auflöste.
Mir war das auch nicht aufgefallen, weil ich aufgrund homöopathischer Zufuhr von Brauereiprodukten damit zu tun hatte, meine eigene Identität daran zu hindern, sich wie eine schimmernde Kugel aus Badesalz im warmen Fluß müßiger Gespräche zu entselbsten und womöglich mit Elfriede Jelinek zu „morphen“. Wir sprachen dann über den Eskimodichter Kobuk. Oder Kubok? Oder beide?
Michael Angelmi, der vor einem ziemlich schwulen Getränk saß, bisweilen daran nippte und Kristina Nenninger mit kurzen Sätzen und langen Pausen versorgte, erwähnte die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion. Ich fragte, ob ich ihn da zitieren dürfe, und er sagte: Nur zu, dann werde er mich verklagen und fürderhin in Saus und Braus leben. Gott sei Dank begann selbige Grenze just in diesem Augenblick recht anständig zu diffundieren; Stefanie Geiger ließ mit einem versonnenen Lächeln einen Horizont erstehen, Jo Lendle tat einen existentiellen Nieser – und päff! wußte niemand mehr, was das jetzt war. Vor dem Fenster unserer Herberge war ein ziemlich lauter Vergnügungspark.
Ich denke manchmal darüber nach, wer nun eigentlich ich bin (womit das feine Wort „eigentlich“ endlich mal das richtige Türchen zum Reinschlüpfen gefunden hat), aber es fällt mir nicht ein. Ich bin auch noch nie mit Elfriede Jelinek photographiert worden, messe dieser (andererseits ja auch erfreulichen) Sache aber nicht viel Bedeutung bei, aus irgendeinem Grund.
Das Telephon klingelt, und mir fällt auf, daß es das wirklich tut, was nicht jeder von seinem Telephon behaupten kann und aber oft genug trotzdem tut. Da – diffundier, diffundier – hat es schon wieder aufgehört. Vielleicht hat das damit zu tun, daß man früher Bücher gelesen hat (so wie man im Weinberg die einzelnen Beeren von den Trauben zupft, was freilich auch nicht stimmt), später dann „fern“ sah („in die Röhre“, genau gesprochen, mithin gar nicht in eine Ferne, sondern in ein elektronisches Kleingezirpe aus Punkten und Linien mit einer Glühbirne dahinter oder irgendwie so) und heute „ins Internet geht“ – neulich sagte wirklich jemand zu mir, er könne „jetzt nicht“, weil er noch „im Internet“ sei. Dabei saß mir die geschätzte Person, unzweifelhaft leiblich, im selben Dimensionskontinuum gegenüber. Alles andere wäre auch ziemlich schlimm.
Am selben Abend habe ich, wieder mal, eine „Short Message Service“ (kurz: SMS) gekriegt. Sie kam vierzehnmal hintereinander; und jedesmal, wenn ich versuchte, sie zu löschen, traf sie sofort erneut ein. Ich vermute, der Absender – nennen wir ihn Stefan – hat mir nicht etwa eine Nachricht geschickt, sondern war selber „online“. Mein „Display“ ist aber für so etwas noch nicht weit genug.
Etwas anderes, was jeder kennt: Es wird mal wieder jemand älter, so richtig mit Geburtstag und pipapo, und wie man so in der Immer-noch-Haidhausener Immer-noch-WG-Küche lungert und mit den mittlerweile überkronten Lächelzähnen Salzstangerl pulverisiert, steht plötzlich irgendein Gesicht da und sagt: Ja Wahnsinn! und daß es einen also auch noch gebe. Davon ist man selber schwer zu überraschen. Man murmelt und brabbelt dies und das, weiß auf die Frage, was man derzeit „so mache“, wenig zu sagen und denkt sich hinterher: Himmelarsch, ist der Kerl alt geworden! Wenn ich jetzt bloß noch wüßte, wer das eigentlich war! – Man sollte lieber daran denken, daß jede von den zweitausend derartigen Begegnungen, die man in den letzten zwanzig Jahren erlebt hat, auf der anderen Seite zu genau demselben Gedanken geführt hat. Plütsch!
Es ging dann weiter: Bob Dylan, erklärte wer (wer?), führe schon seit längerem eine Zweitkarriere unter dem Namen Friederike Mayröcker durch, in diesem Fall ganz ohne Klampfenzupf, dafür aber mit strähnigem Gesichtsbewuchs, auf daß die Täuschung gelinge und man bei Suhrkamp nicht die Rechtsabteilung an den Hals bekomme. Dorten ist neuerdings auch ein Adam Green zu Hause, der in Wirklichkeit Gilbert O’Sullivan ist und sich unter dem neuen Namen endlich traut, seine gewagten Gelegenheitspoeme über Ziegelbröckchen, die aus Vaginen (oder: -ae?) heraus-, nun ja: bröckeln, mit pfundigem Kneipenschlagerplömm zu vertonen. Es sind dies aufregende Zeiten.
Zeiten jedenfalls, in denen unser bebender und schwankender häuslicher Altpapierberg einen Klotz beherbergt, den Germanisten „Manuskript“ nennen täten (obwohl, abgesehen von Randbemerkungen wie „Mir reicht’s! Der Jennerwein hat schon auf!“, nichts davon mit der Hand verfaßt wurde) und der wiederum neben einem regelrechten Trompetengeschmetter innerer Evidenz auch mich die letzten fünf Monate lang beherbergt hat. Da muß man erst einmal wieder hinaus, besser noch: heraus, jedenfalls geschmissen werden von aufrechten Berufstätigen, die sich „Lektor“ nennen und jedes zarte Komma, jeden schmucken Nebensatz, jede preziöse Metapher, jede in nächtelanger Kleinarbeit errecherchierte Fußnote in Frage stellen, weil doch das Papier so teuer ist und die Zeit auch und überhaupt.
Und drum entbiete ich vorläufig Grüße: dem verwirrten Leser (der sich verzweifelt fragt, worum es eigentlich geht in diesem Text, in den er unvorsichtigerweise „gegangen“ ist, – die Antwort lautet: Peter Kaiser; aber das hilft auch nicht, gell?) und dem bedauernswerten Redakteursfreund, den ich förmlich hören kann: „Herrje! der Sailer! ist jetzt auch noch ein Dichter geworden! und wir müssen es ausbaden! Himmel hilf!“ Ach woher, kein Grund zur Sorge. Das wird schon wieder, alles.
Dieser Text entstand am 29. Januar 2005 während eines Textwerk-Seminars im Literaturhaus München beim Abendessen mit Juli Zeh, Daniel Kehlmann, Michael Angelmi, Kristina Nenninger und anderen, wurde fertiggestellt am 2. Februar und erschien stark gekürzt am 9. Februar in meinem damaligen Hauptmedium.