Belästigungen 5/2022: Vom stillen Verschwinden eines Telephons (und anderer Dinge)

Ich habe mein Mobiltelephon verloren. Das ist heutzutage wohl einer der normalsten Vorgänge der Welt und beunruhigt mich nicht sehr. Ich vermute, daß täglich Millionen von diesen Dingern verlorengehen. Mir ist das ja auch schon diverse Male passiert, und meist habe ich das Telephon bald darauf wiederbekommen oder gefunden. Ich bin (zumindest gefühlt) kein Online-Junkie, telephoniere äußerst selten und komme dank meinen jahrelangen Erfahrungen mit miserablen Netzen auch ganz gut mal ganze Tage ohne Verbindung zur vermeintlichen „Außenwelt“ aus. Zudem leben wir ja bekanntermaßen in einer lücken- und grenzenlos überwachten und kontrollierten Welt, in der eigentlich nichts wirklich verlorengehen kann. Früher hätte man in einem solchen Fall ziemlich viel Glück haben müssen. Allerdings konnte man früher kein Mobiltelephon verlieren, weil es so etwas nicht gab.

Heute gibt es kaum noch einen Ort, wo man sein Mobiltelephon nicht verlieren kann. In meinem Fall handelte es sich um den Bahnhof einer Kleinstadt im bayerischen Oberland. Beim Verlust eines wichtigen Gegenstands auf einem Bahnhof hätte man früher das Fundbüro der Bahn angerufen und erfahren, ob jemand das Ding abgegeben hat und wo man es abholen kann. Wenn und falls – unter Umständen waren mehrere Anrufe nötig, oft wurde man tagelang vertröstet.

Heute ist das leichter, heute geht alles online. Der erste Schritt ist: das Mobiltelephon per Laptop zu orten. Mit iCloud geht das nicht so einfach, da kann man zwar eine Nachricht mit Telephonnummer eingeben, die dann auf dem Display des Smartphones erscheint, aber die Ortung funktioniert leider nicht, weil das Ding „offline“ ist, was immer das heißen soll. Der Trick mit der Display-Nachricht führt in eine Endlosschleife, in der man den Text und die Nummer immer wieder neu in das gleiche Fensterchen eingeben kann, aber nie erfährt, was nun passiert. Nach einigen Versuchen entdecke ich die App „Wo ist?“, die offenbar etwas brauchbarer ist. Tatsächlich stellt sich heraus, daß sich das Ding (wie ich es der Kürze halber im weiteren nennen möchte) ungefähr neunzehn Stunden nach dem Verlust (also gegen fünf Uhr morgens) in einer kleinen Seitenstraße nur ein paar Meter vom Bahnhof der Kleinstadt befand.

Auf dem Satellitenbild kann man den Ort so sehr vergrößern, daß man fast meint, es da liegen zu sehen, zwischen einigen abgestellten Autos und einem kleinen Gebäude. Das weckt nun doch Gefühle: einerseits Erleichterung, weil es das Ding noch gibt und ich weiß, wo es ist oder war, andererseits eine gewisse Unsicherheit und Sorge: Liegt es da wirklich noch? Warum liegt es da überhaupt einfach so auf dem Bürgersteig herum? Zum Glück hat die Kleinstadt einen „Bürgerservice“ im Internet; da kann man eine Suchanzeige aufgeben, wozu einige Details nötig sind, die man wiederum diversen Apps auf zwei Laptops entnehmen kann. Das ist nicht ganz leicht, aber es funktioniert.

Seltsamerweise fällt mir auf, daß ich gar nicht sicher weiß, welche Farbe das Ding hat, aber da klärt mich die iCloud-Suche bildlich auf: es ist wohl schwarz. Ist die Suchanzeige aufgegeben, beginnt ein wunderlicher Vorgang: Die Webseite – man erkennt das an einem Rad, das sich etwa eine Stunde lang dreht – sucht offenbar tatsächlich, in „Echtzeit“ und liefert schließlich fünf Ergebnisse, bei denen man vermutet, es könne sich um mein Ding handeln: einen Laptop, eine Jacke, eine Handtasche, ein Akkuladegerät und noch etwas, das ich gleich wieder vergesse, weil es noch weniger mit einem Mobiltelephon zu tun hat. Immerhin: die Anzeige ist aufgegeben.

Diverse Internet-Beratungsseiten für Handyverlierer raten mir zu einer Diebstahlsanzeige bei der Polizei. Das klingt vernünftig, geht online aber nur, wenn es sich um etwas handelt, was mit Autos oder Fahrrädern zu tun hat. Der Versuch, die nächstgelegene Dienststelle der Münchner Polizei zu eruieren, führt in eine Endlosschleife; weder die Polizei selbst noch das Innenministerium und verwandte Online-Stellen wollen damit herausrücken. Vielleicht bin ich auch einfach zu blöd, jedenfalls sind am Ende etwa zehn Tabs und Fenster offen, die ich alle in einer früheren Runde schon mal gesehen habe, ohne etwas zu erfahren.

Ich bin kurz davor, mit dem Telephon meiner Liebsten einfach 110 zu wählen (unser „Festnetz“ funktioniert seit Jahren nicht mehr), möchte aber die in dringenden Fällen wichtige Notrufnummer nicht mit meiner Lappalie belasten. Zudem weiß ich, daß Polizisten Beamte sind. Das heißt: Sie stehen im Dienste der Bevölkerung und sind – falls sie nicht gerade gegen die Bevölkerung vorgehen müssen, um den Staat vor seinem Souverän zu „schützen“ – hilfsbereit, oft freundlich und recht bemüht. Also schreibe ich eine Mail an die Polizei und erhalte tatsächlich nach wenigen Minuten eine persönliche Antwort: Anzeigen könne man leider nur persönlich auf einer Dienststelle erstatten. Soll ich zurückfragen, wo es eine solche gibt? Nein, das ist mir peinlich.

Mir fällt plötzlich ein, daß ich auf einer Dienststelle (früher hieß das „Polizeirevier“) in relativer Nähe vor Jahren mal eine Aussage machen mußte, damals allerdings als Delinquent. Da fahre ich jetzt einfach mal hin. Und stelle leider fest, daß es die Dienststelle nicht mehr gibt. Eine Telephonzelle mit einem Telephonbuch, wo man so etwas nachschlagen könnte, gibt es ebenfalls nicht mehr, und telephonieren kann ich logischerweise nicht. Auf der Suche nach einem herumfahrenden Streifenwagen (den es am Sonntagvormittag erstaunlicherweise auch nicht gibt), finde ich zufällig doch eine Dienststelle, nur eine Straße weiter.

Am Eingang werde ich per Aushang aufgefordert, einen FFP2-Staubschutzfilter zu tragen, aber das ist mir jetzt egal, weil ich so etwas wahrscheinlich gar nicht mehr besitze und jedenfalls nicht dabeihabe. Die Glastür ist verschlossen, läßt sich aber per Klingel öffnen. Drinnen erscheint ein junger Polizist hinter einer teilverspiegelten Glasscheibe und berät mich per Lautsprecher. Von einer Maske sagt er nichts, trägt selber keine, wir sind ja auch mutmaßlich luftdicht getrennt.

Als ich ihm den Fall geschildert und den Aufenthaltsort des Dings auf einem Bildschirmphoto der „Wo ist?“-App gezeigt habe, ist er ein bißchen ratlos. Da solle ich doch am besten erst mal beim Reisezentrum der Bahn in der Kleinstadt anrufen und fragen. Ich wende ein, daß ich nicht telephonieren kann, und er empfiehlt mir, das Handy eines Freundes oder Bekannten auszuleihen, den ich allerdings auch erst anrufen müßte, was nicht geht … Um ihn nicht zu überfordern, sage ich, da werde sich ein Weg finden, und er schreibt mir die Nummer des Reisezentrums auf, die er im Internet recherchiert hat.

Zu Hause stelle ich fest, daß es sich um eine 0180-Nummer handelt und der verbundene Apparat wahrscheinlich nicht in der Kleinstadt steht. Zudem erreiche ich nur eine Bandansage, die mir eine neue Nummer mitteilt, weil die alte nicht mehr gültig sei. Diesmal ist die Vorwahl 030, also Berlin, trotzdem rufe ich an, höre mir eine Viertelstunde lang eine ziemlich unverständliche Informationsansage zum Neun-Euro-Ticket an, mehr kommt nicht. Eine weitere Recherche ergibt, daß es in der Kleinstadt kein Reisezentrum der Bahn gibt, weil die eigentliche Bahn dort nicht hinfährt und es eine eigentliche Bahn streng genommen sowieso nicht mehr gibt, sondern nur alle möglichen „Dienstleister“.

Immerhin finde ich eine Internetseite mit dem Titel „Reisezentrum“, wo man mit etwas Geduld und Geschick sogar verlorene Gegenstände melden kann. Erleichtert fülle ich also eine weitere Suchanzeige aus, die bis ins Detail identisch mit der ersten ist, die ich nicht mehr aufrufen kann, weil sich mein Laptop das „starke Passwort“ nicht gemerkt hat, und erfahre am Ende, daß man bitte nur eine Suchanzeige aufgeben möge. Da es sich aber ja um zwei verschiedene Stellen bzw. „Dienstleister“ handelt, ist mir das egal. (Zufällig bemerke ich übrigens auch, daß sich das kleine Fensterchen in iTunes, dem man die Serien- und IMEI-Nummer des Dings entnehmen kann, immer dann schließt, wenn man eine der beiden zur Hälfte abgetippt hat – da lacht sich sicher irgendwo ein gescherter Programmierer ins Fäustchen.)

Diesmal wähle ich die Option eines „starken Paßworts“ ab, gebe ein eigenes ein und erhalte nach längerem Warten die Mitteilung, daß leider kein verwandter Gegenstand gefunden wurde, zumindest vorläufig. Ich überlege, was ich noch tun kann, betrachte noch mal das Luftbild, gebe die Adresse bei Google Maps ein und finde heraus, daß es sich bei dem Gebäude, vor dem mein Ding gegen fünf Uhr früh noch lag, um den Sitz der „Berchtesgadener Land Bahn GmbH“ (BLB) handelt. Das erleichtert mich und gibt mir neuen Mut: Vielleicht hat sich Ortung um ein paar Meter verschätzt, und das Ding liegt in dem Gebäude oder war gegen fünf Uhr früh gerade unterwegs dorthin? Da möchte man doch fast schon „Heureka“ rufen, zumal Google Maps auch noch eine Telephonnummer weiß.

Die gibt es allerdings nicht mehr, eine neue ist nicht zu erfahren. Wikipedia erzählt mir einiges über die BLB GmbH und verlinkt auf eine Webseite, die leider nicht geöffnet werden kann, also vielleicht nicht mehr existiert. Jetzt wird die Recherche ein bißchen kompliziert, dann finde ich heraus, daß es die BLB GmbH wohl insgesamt nicht mehr gibt und neuerdings die „Bayerische Regionalbahn“ (BRB) deren Dienstleitungen ausführt, zumindest in der betreffenden Region.

Auf deren Webseite gibt es keine Kontaktadresse, weil sie selbst nur Teil eines anderen Unternehmens namens „devtrans“ ist, von dem ich ebenfalls noch nie gehört habe. Immerhin aber gibt es die Möglichkeit, eine Suchanzeige aufzugeben. Das tue ich nun also zum dritten Mal, das Formular ist wiederum identisch, aber die Webadresse erneut eine andere, also denke ich mir nichts dabei und ärgere mich nur ein bißchen, daß ich die Serien- und IMEI-Nummer immer noch nicht auswendig kann und deshalb das iTunes-Fensterchen nach einer kurzen Wartezeit immer wieder neu mit dem Maus berühren muß (klicken hilft nicht, da bleibt es ganz zu).

Da ich nun wirklich keine Idee mehr habe und nicht in die typische Online-Verblödung verfallen will, immer wieder neue Seiten mit denselben „Informationen“ und Tips aufzurufen, um mit vielen neuen Werbeanzeigen beschossen zu werden, beschließe ich, vorläufig erst mal abzuwarten. Vor meinem inneren Auge erscheint das Häuschen in der Seitenstraße in der Kleinstadt; hinter dem Fenster sehe ich einen Schreibtisch stehen, darauf ein paar Blätter Papier, eine Schreibtischlampe, mein Ding und ein altes Bakelittelephon, das man ganz leicht anrufen könnte, wenn es ungefähr 1990 wäre und man die Nummer wüßte.

Aber nein, es ist Sonntag, da hat man auch 1990 an was anderes gedacht, vorübergehend, also setze ich mich aufs Rad und fahre an den See.

Erster Nachtrag: Lustig ist, daß sich das Ding zwischendurch selbst bei mir meldet. Es schickt mir nämlich am Montag mittags um 12 Uhr 13 und um 12 Uhr 14 unter der lustigen Absenderadresse „Find My“ zwei E-Mails, um mich zu informieren, daß es gefunden worden sei: einmal in der bekannten Seitenstraße, einmal ein paar Meter weiter in der nächsten Seitenstraße. Anfangen läßt sich mit diesen Informationen nichts. Tatsächlich bewegt sich das Ding auch auf dem „Wo ist?“-Luftbild bis Montag immer mal wieder ein paar Meter nach links, rechts, vorne oder hinten, dann aber bricht der Kontakt ab. Vielleicht ist es jetzt wirklich „offline“ oder einfach eingeschlafen.

Gehört oder gelesen habe ich von ihm und all den suchenden Ämtern oder Behörden oder Dienstleistern (oder was immer sie sind) in den letzten acht Tagen nichts mehr.

Zweiter Nachtrag, der nichts mit der ganzen Geschichte zu tun hat (oder doch?): Auf dem Weg durch Schwabing fällt mir auf, daß es die häßlichen „Bild am Sonntag“-Kästen, die früher überall herumstanden und einem mit ihrem blödsinnigen Hetzgeschrei den ruhigen Tag zu vergällen versuchten, nicht mehr gibt. Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, in letzter Zeit so ein Gerät gesehen zu haben; vielleicht sind sie schon seit Jahren weg.

An ein Verschwinden, fällt mir auf, kann man sich nicht oder kaum erinnern, nur an die Gegenstände selbst, das gilt ja auch für Telephonzellen, Telephonbücher, Polizeireviere, Fundbüros in Bahnhöfen, die Bahn selbst und manches andere, was das Leben früher angeblich so fürchterlich kompliziert, ineffektiv und schwerfällig machte, daß man doch froh sein sollte, jetzt im Online-Zeitalter zu leben, wo alles so einfach geht und ist.

Vielleicht gibt es „Bild am Sonntag“ ja auch nur noch online, vielleicht gelänge es mir nach drei Stunden Recherche in Endlosschleife per Formular und IMEI-Nummer, das vertraute Bullshit-Gebrüll am Bildschirm entgegenzunehmen und als PDF zwischen meinen Suchanzeigen zu speichern.

Aber dafür ist mir das Wetter zu schön und das Verschwinden in diesem Fall zu erfreulich.

3 Antworten auf „Belästigungen 5/2022: Vom stillen Verschwinden eines Telephons (und anderer Dinge)“

  1. Habe vor 2 Wochen ebenfalls mein Mobiltelefon verloren und bin nun im Nachhinein glücklich, dass ich von den vielen Möglichkeiten der Online-Suche gar nichts wusste. So konnte ich nicht davon belästigt werden.

    Jetzt profitiere ich sogar davon, dass immer alles nur halb funktioniert:

    Ich dachte früher das Telefon ist kaputt, weil es nur manchmal funktionierte. Es lag aber offenbar gar nicht am Telefon, sondern möglicherweise am schlechten Netz oder dem Provider. Man weiß es nicht.

    Nun funktioniert es wieder mit Ersatz-Sim für schlappe 25 EUR.

  2. Ich habe einen Trick gefunden, um das Mobiltelefon nie zu verlieren: keins zu haben. Vielleicht führe ich ein sehr seltsames Leben, aber ich kann auf das Ding glücklich verzichten. In der Vergangenheit habe ich einige gehabt und gehaßt. Es war eine Erleichterung, als das letzte nicht mehr funktionierte. Jetzt habe ich ein Festnetztelefon, daß so aussieht, wie die alten Geräte aus Bakelit. Damit kann man gut leben, etwas anderes braucht man nicht. Wirklich!

  3. Kein Smartphone nicht haben:

    Dann kann es einem aber passieren, daß man trotz nachgewiesener Internetavantgarde aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von wohlmeinenden Nichten und Neffen auf einem Kaffeeklatsch mitleidig instruiert wird wie ein Smartphone funktioniert und wozu es gut ist. Man bekommt dann sogar eine sms auf das alte Nokia-Handy mit dem Inhalt: „Liebe Josi, es gibt da eine Funktion, die heisst whatsapp und die verbindet alle Freunde und Menschen weltweit ganz problemlos untereinander. Magst Du es mal ausprobieren, es geht auch ganz leicht, ich zeige es Dir gerne!“: Hey, wir haben das Internet erfunden, ihr Murmeltiere, vollgepamperten Zwei-Studiengänge abgeschlossen Habende noch nie Berufstätigen aus der Vollversorgung akademischer Grünen-Elternhäuser. Merkt euch das. LG Josi P.S.: Alle geimpft bis zum letzten Impfausweis.

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