Es sind auch nicht wenige, denen vier Alben für ein Rock-’n‘-Roll-Leben genügen und alles weitere höchstens Variation, Verwässerung und Geplänkel ist. „Beggars Banquet“ (1968), „Let It Bleed“ (1969), „Sticky Fingers“ (1971) und „Exile On Main St.“ (1972) reichen tatsächlich aus, um die Welt zu füllen, und möglicherweise ist das dritte davon der zentrale Dreh- und Angelpunkt, weil sich hier alle Extreme treffen und in Perfektion verschmelzen. Musikalisch sowieso: Blues und Funk, Orchestergrandezza, Soul-Süße und 20er-Jahre-Straßenstaub, ausufernde, aber auf den Punkt komprimierte Jam-Improvisation (in dem zufällig mitgeschnittenen zweiten Teil von „Can’t You Hear Me Knocking“) und Hard-Rock-Wucht, Faust-ins-Gesicht-Direktheit („Bitch“) und Method-Acting-Theater (die Country-Rock-Pastiche „Dead Flowers“).
Aber dazwischen, daneben und darüber hinaus: ein Vulkan an Texten, von denen Mick Jagger später meinte, er hätte sie nie mehr schreiben können, weil er sich automatisch selbst zensiert hätte. In denen alles vorkommt oder sich zumindest herausdeuten läßt, was die Abgründe des Lebens an Schmutz zu bieten haben, vom peitschenden Sklaventreiber in „Brown Sugar“ bis hin zu den selten kaschierten Drogenbezügen dort und in praktisch jedem weiteren der zehn Songs, in denen von „Sister Morphine“, einem Kopf voller Schnee („Moonlight Mile“), Nadel und Löffel und allen möglichen Überdosen die Rede ist. Andy Warhols Cover mit erigiertem Penis und Reißverschluß (der nebenbei andere Platten im Regal zerstörte).
Und der Kontext der Entstehungszeit der Platte (1969 bis 1971): Terrorismus, Jean-Luc-Godard, Black Panthers, der Tod von Brian Jones im Swimming-Pool, 300.000 Menschen und tausend weiße Schmetterlinge im Hyde Park, Truman Capote, Michael X, Enoch Powell, „Performance“ und „Ned Kelly“, Marsha Hunt, Marianne Faithfull, Angela Davis und Bianca Pérez-Mora Macias, Drogenprozesse, Totschlag in Altamont, uneheliche Kinder, Scheidungen, Krawalle und Tränengas in Hamburg und Mailand, die infame „Single“ „Cocksucker Blues“, eine Flut von Prozessen, Bootlegs (herausragend: „Get Your Leeds Lungs Out“, im „Super Deluxe Edition Boxset“ nun offiziell erhältlich), Auflösung des Vertrags mit Decca und Gründung des eigenen Labels, Steuerflucht nach Südfrankreich; und was für eine Zeit das war, zeigt vielleicht am schönsten die längst vergessene Episode der Verurteilung von Charlie Watts‘ Ehefrau Shirley zu sechs Monaten Gefängnis, weil sie auf dem Flughafen von Nizza ein paar Zöllner krankenhausreif prügelte. Diese Menschen, möchte man meinen, waren einige Jahre lang ganz schön aus dem Häuschen.
Yeah, oder sagen wir’s mit Jagger: „Wenn Gott will, daß ich eine Frau werde, dann werde ich eine Frau.“ Das heißt: nichts. Und alles. Rock ’n‘ Roll eben.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.