(periphere Notate): Rand am Rande

Ich gestehe: Ich habe schon mal von Martin Schirdewan gehört. Weiß aber nicht mehr wann und habe seinen Namen damals als „Schtirlemand“ verstanden und (wg. Vorschädigung) mit einem schweizer Schlager von 1970 assoziiert. Der angebliche Vorsitzer einer laut eigener Aussage „politisch toten“ Organisation zur Verunglimpfung des Begriffs „links“ ist aber selbst ein begabter Schlagertexter: „Wir haben heute den Startschuß für eine Linke mit Zukunft gelegt“, soll er dem Staatsfunk gesagt haben. Das ist fein. Wenn der Schuß somit gelegt ist, wird hoffentlich auch jemand den Grundstein abfeuern oder das Fundament zersetzen. Ach nein, letzteres ist ja bereits geschehen.

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Belästigungen 4/2023: „Vom Einzelschuß zur Feuerwalze“ – über das „Leben“ in der Apokalypse

Ich habe in den Neunzigern einige Jahre als Buchhändler gearbeitet, in einer schönen Buchhandlung mit einem erfreulich breiten Sortiment weit über die üblichen Bestseller hinaus, die schon damals durch die Feuilletons gedreht, von sogenannten Kritikern behudelt, preisgekrönt und nach drei Wochen vergessen wurden. Neben diesem Druckmüll, der in regelmäßigen Wellen von Kistenbergen hereinflutete, von den feinfühligen und hochanständigen Kolleginnen mit spitzen Fingern gestapelt wurde und den Laden am Laufen und Leben hielt, und den Perlen, die kluge Menschen aus dem Schlamm zupften, gab es sogenannte „Steadyseller“, die über die Jahre hinweg immer wieder nachbestellt wurden, weil sich immer mal wieder jemand fand, der sie kaufen wollte.

Darunter waren sehr spezielle Bücher, die Buchhändler selbst im Lager, wo kein Kunde hinkam, verschämt in Ecken verräumten, weil sie irgendwie anrüchig, widerwärtig, degoutant waren – eine Art Pornographie ohne Haut, zumindest nicht in der Form von Serviervorschlägen, wie man sie von Sexbildern kennt. „Belästigungen 4/2023: „Vom Einzelschuß zur Feuerwalze“ – über das „Leben“ in der Apokalypse“ weiterlesen

Reisen im Regal (1)

Die Luft war leer und heiter, während die orangefarbene Sonne sich ruhig und stetig aus dem klebriggelben Band des Horizonts löste. Prosser verfolgte ihr langsames Zutagetreten. (…) Er nahm nichts wahr als die aus dem Meer aufsteigende Sonne: erhaben, unerbittlich, fast schon komisch.
Schließlich saß der orangefarbene Ball fein säuberlich auf dem fernen Wellensockel, und Prosser schaute weg. (…)
Auf 2500 Metern fing Prosser das Flugzeug ab und nahm erneut Kurs auf den Stützpunkt. (…) Da passierte etwas. Er war so schnell heruntergegangen, daß es die Sonne wieder unter den Horizont zurückgetrieben hatte, und als er nach Osten schaute, sah er sie noch einmal aufgehen: an derselben Stelle hinter demselben Meer kam dieselbe Sonne heraus. Wieder ließ Prosser alle Vorsicht außer acht und sah einfach zu: der orangefarbene Ball, das gelbe Band, der Sockel des Horizonts, die heitere Luft und das geschmeidige, schwerelose Aufsteigen der Sonne, die zum zweiten Mal an dem Morgen aus den Welle hervorkam. Es war ein ganz gewöhnliches Wunder, das er nie vergessen würde.
Julian Barnes: In die Sonne sehen (1991)

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Ein bißchen Reklame (aber nicht nur)

Ich halte nicht viel von Weihnachten, und seit meiner späteren Jugend halte ich auch nichts von terminbezogener Schenkerei. Die Exzesse der siebziger und achtziger Jahre, als Menschen in unseren Breiten mit vollgetürmten Wäschekörben voller Zeug zu Familienfeiern zu Familienfeiern zogen und sich mit Schlüsselanhängern, Brieftaschen, Handtüchern, Haushaltsgeräten (vom Eierschneider bis zum Spargelschäler) und ähnlichem Unrat förmlich überschütteten, hinterließen einen bleibenden Überdruß und eine Art Gegenstandsdiabetes, deren Gegenstück heute in Form der allgegenwärtigen „Zu verschenken“-Schachteln vor den Hauseingängen mahnt.

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(periphere Notate): Nord-Stream-Terror: Der Robert war’s!

Der Krieg der NATO gegen Rußland nähert sich den entscheidend(er)en Phasen. Da stehen nun auch grundsätzliche Entscheidungen an: Soll Rußland vollständig zerstört werden (wie etwa Libyen), zerschlagen und kolonisiert (wie Teile des ehemaligen Jugoslawien)? Oder beugt man sich der außerhalb der direkten Kriegstreiberkreise (von Rand bis Nuland) verbreiteten Einsicht, daß beides nicht realistisch möglich ist und das Maximalziel nur sein kann, den Krieg so lang und mit so vielen Toten und Zerstörungen wie nur möglich am Laufen zu halten, bis Rußland von selbst zusammenbricht?

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Belästigungen 14/2017: So! So! So! (Achtung: Blödbla-Attacke 4.0!)

Der Deutsche hat zu Büchern ein eigentümliches Verhältnis, das sich in ein paar Faustregeln zusammenfassen läßt: Mit acht kriegt man sie geschenkt, mit achtzehn klaut man sie, mit achtundzwanzig kauft man sie, mit achtunddreißig schreibt man sie, mit achtundvierzig verschenkt man sie, mit achtundfünfzig schmeißt man sie weg, mit achtundsechzig kann man sie nicht mehr richtig lesen, mit achtundsiebzig läßt man sie sich vorlesen, mit achtundachtzig kann man sich an kein gelesenes und vorgelesenes Wort mehr erinnern.

So kommt es, daß deutsche Verlage Menschen, die eigentlich ihrem Alter entsprechend klug, intelligent und erfahren sind (oder sein könnten), Bücher für zehn Jahre jüngere Menschen schreiben lassen (oder vielmehr für das, was „Belästigungen 14/2017: So! So! So! (Achtung: Blödbla-Attacke 4.0!)“ weiterlesen

Belästigungen 06/2015: Das gibt es auch als Buch! (inkl. Nabokov, Fix & Foxi und Lagerfeuer)

Wenn im frühen Frühling der weiche Regen die Fenster wäscht, verkrieche ich mich gerne in die Welt der gedruckten Buchstaben. Dies ist eine extrem verniedlichende Umschreibung für ein schlimmes Problem: die galoppierende Büchersucht, an der ich leide, seit ich eines Tages von einem lieben Menschen sozusagen die Einstiegsräuberleiter hingehalten bekam. Wir hatten uns gemeinsam einen schönen Film angeschaut, und sie sagte, das gebe es „auch als Buch“.

Eine unverschämte Untertreibung. Es gab den Film nicht etwa als Buch, sondern es gab ein Buch, aus dem irgendwer ein Filmchen herausgewrungen hatte, so wie man aus einer jahrelangen Beziehung ein „Fazit“ herauswringt oder Witzchen über Sex macht, von denen man in verzweifelten Momenten zwischen Klo und Tresen meint, sie seien genauso gut wie Sex. „Belästigungen 06/2015: Das gibt es auch als Buch! (inkl. Nabokov, Fix & Foxi und Lagerfeuer)“ weiterlesen

Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers, frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist? „Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne“ weiterlesen