Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers, frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist?

Bis dann endlich doch eines Tages das Wolkenplumeau sich nicht lichten will, blutorangenfarbene Blätter wie eine Horde verspäteter Zaunkönige und Rotkehlchen um die leere Luft tanzen und gar ein paar Tropfen als mahnend-monotone Wasseruhr allgemeines Schwinden darstellen: Dann ist mit einemmal der Himmel nicht mehr der Hut, die Erde nicht mehr der Schuh, sondern die eigene Wohnung eine sanfte Höhle, von der man erstaunt feststellt, daß man ihre Entwicklung seit Monaten nicht mehr verfolgt hat.

Auf dem Schreibtisch findet sich ein alter Zeitungsausriß mit einer interessanten Information: „In über einem Drittel der Haushalte in Deutschland“, heißt es da, „kreuchen und fleuchen 28 Millionen Haustiere.“ Schon spürt man ein eigentümliches Kribbeln und Zippeln, ein Huschen und Sirren, Flirren und Krabbeln, und wenn man müßig in den Ring von Blätterchen pustet, den das Granatapfelbäumchen auf dem Fensterbrett kokett um sich gelegt hat, und erstaunt zuschaut, wie eine Großfamilie von Zitterspinnen panisch-unbeholfen in alle Richtungen davonhumpelt, erscheint einem diese Mitteilung sehr plausibel.

Dann, o ja, ist es Zeit zum Aufräumen. Diese hochzivilisatorische Tätigkeit, die jeden Herbst so zuverlässig wiederkehrt wie bald darauf das Weihnachtsspektakel (und bei der durchschnittlich etwa dreißig längst verloren geglaubte oder überhaupt vergessene Gegenstände wieder auftauchen und ebensoviele für mindestens ein bis fünf Jahre verschwinden), bedarf höchster Akribie und Sorgfalt. Wie schrecklich die Menschen, die einmal die Woche mit dem Staubsauger durch die Bude röhren und kein Auge haben für all die Kleinigkeiten, das Strandgut häuslichen Lebens, das dabei für immer aus der Welt gerät!

Also wird zunächst der Schreibtisch „aufgeräumt“. Eine vergilbte Telephonnummer ohne Namen, eine spätnächtlich unleserlich hingekritzelte Notiz für eine Kurzgeschichte, eine goldgelb verfärbte Vorab-CD aus den Neunzigern (ohne Beschriftung), ein Flyer für eine nicht besuchte Premiere, drei verstaubte bunte Steinchen vom Strand bei Grosseto, eine finanzamtliche Mahnung, von der man nicht mehr weiß, ob man ihr Folge geleistet hat, ein jungfräulicher ZDF-Notizblock, von dem man ahnt, daß man ihn auch die nächsten fünfzig Jahre nicht benutzen wird, eine norwegische Briefmarke, auf deren Rückseite der Titel eines Films steht, den man nie gesehen hat, ein erfreuliches Blutbild von 2012, eine Aschenbecherscherbe aus dem Westbury-Hotel in Dublin, ein Kindergartenportrait einer verflossenen Bekannten, ein praktischer Riemen für Kabel, der Stempel einer unbekannten Firma mit vierstelliger Postleitzahl, eine Einladung zum Erstsemesterfest (1998), ein undefinierbares Holzfigürchen mit vier Beinen und angeleimtem Wackelkopf, ein leeres Feuerzeug mit der Aufschrift „Drogen nur vom Fachmann“, der Hinweis auf einen Literaturwettbewerb (Einsendeschluß 31. 3. 2011), ein alter Backstagepaß, ein USB-Kabel für ein kaputtes Telephon, drei Knöpfe von einer kaputten Jacke, ein Stück Plastik, das im Dunkeln leuchtet, ein Lederbändchen, zwei Matchbox-Superfast-Räder mit Achse … – darf man derartige Dinge einfach so hinfortschmeißen, auf die Gefahr hin, daß irgendwann, in Jahrzehnten vielleicht, der Moment kommt, wo man sie doch mal brauchen kann oder wo sie einen wunderlichen Lichtfinger der Erinnerung in ein dementes Hirn hineinfallen lassen?

Selbstverständlich nicht. Also läßt man das meiste, wie es ist, wendet sich dem überquellenden Kleiderschrank zu, bringt es aber nicht übers Herz, auch nur ein einziges der steinzeitalten T-Shirts, eine einzige der zerfetzten Jeans aus Schulzeiten zur Kleidersammlung zu tragen (wer sollte so was anziehen?), und hebt sogar durchlöcherte Socken auf, weil man schon seit Jahren plant, aus ihnen und einem zerschlissenen Handtuch eine hübsche Rolle zu basteln, die man im Winter ans Fenster legen kann, um zu viel Zugluft zu verhindern.

Vom Bücherregal wollen wir gar nicht reden. Da hat die italienisch kommentierte Ausgabe von Ovids „Fasti“ (Florenz 1822) ebensowenig zu befürchten wie Christian Gotthilf Salzmanns „Joseph Schwarzmantel oder Was Gott thut, das ist wohlgethan“ (wohlfeile Ausgabe für Schüler, Schnepfenthal 1834), Autoren wie Urzidil, Utermann, Utzinger und Uzarski, die wahrscheinlich kein Mensch mehr kennt und nie mehr kennen wird, die in Teilen zerfledderten Gesamtwerke von Irren wie Seeliger und Scherr, die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ von Walter Ulbricht, „Ereignisse und Gestalten“ von Wilhelm II., Helmut von Hummels „Aus meinem Leben“ und die Gesprächsprotokolle der Kommune 2.

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so lange dauert, daß man ganze Tage in und zwischen Regalen verbringt und hineindämmert in obskure Lesezeichen, An- und Bemerkungen, bis man vollkommen vergessen hat, was man irgendwann „ursprünglich“ mal wollte („aufräumen“?). Aber dann scheint eh schon wieder die Sonne, haben 28 Millionen Zitterspinnen neue Netze erbaut, und zum Staubsaugen bleibt nächsten Herbst auch noch Zeit.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.

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