Die Isar sei neuerdings ein „Mythos“, teilt die tz heute (19. Juni) mit. Ein Musterbeispiel für Fake News! darf ich als unmittelbarer Zeuge dagegenhalten: Im Gegensatz zu Lindwurm und Wolpertinger ist die Isar nach wie vor ganz real vorhanden und für jedermann, der nicht lieber arbeiten will, frei zugänglich. Wer’s nicht glaubt, darf mich gerne an meinem Lieblingsbadeplatz besuchen und sich selbst überzeugen.
Allerdings muß man dazu am Flauchersteg hinabkraxeln und hinterher auf dem Weg zum Biergarten auch wieder hinaufkraxeln, und das mag nicht jeder. Bevor jetzt aber die Aktivürstchen von der grünen Spaßbrausenfraktion daherkommen und per Facebookkampagne den Einbau blinkerbunt beleuchteter Treppen und Wasserrutschen samt Lampionboulevard mit verstimmten Klavieren fordern, füge ich vorsorglich hinzu: Das macht nichts, im Gegenteil! Es muß ja nicht jeder bei uns rumwimmeln, schon gar nicht die Cloud-Rap-Terroristen, die immer dann Ferien haben und Augustinerflaschen in der Gegend herumschmeißen, wenn die Sonne scheint.
Außerdem schadet ein bisserl Kraxeln nicht. Schon gar nicht Menschen wie mir, die den ganzen Sommer über (vom gelegentlichen Heben eines Maßkrugs abgesehen) nur die Beine bewegen (beim Radeln) und solcherart überprüfen können, ob noch ein Rest Armmuskulatur übrig ist.
Neulich indes kamen mir nach dem spätnachmittäglichen Hinaufkraxeln zwei Männer mit der Aufschrift „Sicherheitsdienst“ entgegen, grüßten freundlich und meinten, das Gekraxel solle man lieber bleiben lassen. Ich wies sie auf das Fehlen eines entsprechenden Verbotsschilds hin und fragte, wie man denn sonst da hinunter kommen solle. Da waren sie kurz ratlos, blickten auf dem Panorama herum und empfahlen dann: über eine der Treppen und durch die Isar.
Das geht zugegebenermaßen auch, ist jedoch ein ganz schöner Umweg, außerdem hängen an beiden Wasserfällen, die oder deren Einzugsbereich man dabei durchqueren müßte, Schilder mit der Aufschrift „Gefahrenbereich – Baden verboten“. Reißen tut es da schmelz- und nachhochwasserbedingt auch ganz schön, da kippt man leicht mal samt Rucksack ins Wasser und wird schlimmstenfalls bis nach Moosburg oder Landshut geschwemmt. Und sowieso wollte ich erfahren, was am Kraxeln denn so schlimm sei. Wenn die Kinder das sehen, meinten die zwei Männer, machen sie es nach, und dann könne was passieren.
Ich wies sie darauf hin, daß ich selbstverständlich auch als kleiner Bub schon am Flauchersteg herumgekraxelt bin, und nicht nur da übrigens. Die Männer hatten aber keine Zeit mehr für mich, weil schon die nächsten Kandidaten heraufgekraxelt kamen und ebenfalls ermahnt werden mußten. Gebracht hätte es ohnehin nicht viel. Die zwei wirkten sympathisch, hatten aber zusammengenommen den Umfang eines mittleren SUV-Panzers und daher natürlicherweise mit Kraxeln nicht viel am Hut. Beim Versuch, es mir nachzutun, hätten sie vermutlich den halben Flauchersteg abgerissen; es wäre geschert gewesen, ihnen diese Form der Ertüchtigung zu empfehlen oder darauf hinzuweisen, sie hätten das lieber als Kinder mal probiert, anstatt sich mit Myspace und Chips die Zeit zu vertreiben.
Recht hatten sie ja eh. Zwar finde ich, daß Kinder nicht früh genug kraxeln lernen können, weil sie sonst spätestens mit fünfzehn selbst durch intensivste Krankengymnastik nicht mehr zu retten sind und mit achtzehn, wenn sie den Krieg gegen Rußland gewinnen sollen, höchstens noch als Marschflugkörper taugen.
Aber freilich: Passieren kann was. Nicht nur beim Kraxeln übrigens. Passieren, das wissen wir von dem großen Liederdichter Christoph Theussl, kann immer was. Und das meiste, was Kindern passieren kann, ist auch schon mal passiert, im Zweifelsfall uns selbst. Kinder fallen von Bäumen, Zäunen, Gerüsten, Garagendächern, Gepäckträgern, Balkonen, Aschentonnenhäuschen, von allem, wo man irgendwie herunterfallen kann, wenn man sich blöd anstellt, und Kinder stellen sich immer blöd an. Und wenn grad nichts zum Herunterfallen da ist, fallen sie irgendwo hinein, in Gullis, Scherben- und Misthaufen, Schlammpfützen und so weiter.
Kinder zünden die Wohnung an oder überschwemmen sie, werfen Zeug aus dem Fenster oder schießen Fußbälle und andere Gegenstände ins Fenster hinein. Kinder verletzen sich mit Eiszapfen, Zweigen und Ästen, Kartoffelpistolen und Luftgewehren, Steinschleudern, Schaufeln, Pfeilen, Blasrohren, Kriegsbeilen, Federballschlägern, Messern und Gabeln, modifizierten Silvesterraketen, Elektromotoren und Dampfmaschinen, und wenn sie nichts finden, womit man sich verletzen kann, stecken sie sich Erbsen, Erdnüsse und Schusser in Nasen und Ohren, essen giftige Beeren oder zünden ihre Fürze an.
Kinder, kurz gesagt, tendieren dazu, etwas passieren zu lassen, und wenn man ihnen etwas vormacht, was unvernünftig, sinnlos, gefährlich und spaßig ist, dann machen sie es nach, umgehend und hordenweise. Es ist noch nicht so lange her, daß ich wie gewohnt vom Wasserfall an der Marienklause gehüpft bin und hinterher feststellen mußte, daß ich die Schulklasse auf Wandertag übersehen hatte, die sich nun wie eine Herde mythischer Lemminge (die diesbezüglich übrigens im Gegensatz zur Isar tatsächlich ein Mythos sind) von derselben Hochkante ins brausende Wasser stürzte. Passiert ist nichts, aber das weiß man vorher nicht, und die verzweifelt jodelnde und rotierende Lehrerin wußte es offenbar hinterher auch noch nicht, als sie mich auf meinen entsprechenden Einwand ankeifte: „Nichts passiert! Was heißt hier nichts passiert!“
Freilich also wäre es vernünftiger, Kindern nur noch lobenswerte Sachen vorzumachen, sie überhaupt in ein gepolstertes Kontinuum permanenter Sicherheit und risikofreier Bespaßung zu betten, bis sie karriere- oder zumindest arbeitsreif sind. Und wenn sie sommers doch mal rudimentäre Reste von Bewegungsdrang spüren, pfercht man sie in perfekt durchorganisierte, DIN/CE/TÜV-zertifizierte „Frei“-Bäder.
Und dann? Hauen die undankbaren Bamsen das ganze Michaelibad zu Klump und randalieren herum, bis die Polizei kommt! Die muß dann, anstatt Nazimörder zu verfolgen und den Verkehr zu regeln, „undercover“ (laut „Bild“) im Bad herumflitzen und sicherstellen, daß nichts passiert. Da wär’s vielleicht doch gescheiter gewesen, die ungezogene Brut ausgiebig am Flauchersteg herumkraxeln und sich anderweitig austoben zu lassen. Bevor vollkommen unerwartet so was, na ja: passiert.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.
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