40 Jahre, 13 Tage (The Clash: „London Calling“)

Es gibt einige große Rockalben, die auch abseits der Musik und ihrem Anhangsapparat von Trends, Einflüssen, Querbeziehungen und stilistischen Entwicklungen die Welt verändert haben, aber wahrscheinlich keines so gründlich wie London Calling (vielleicht noch die erste Elvis-LP, die das Cover zitiert). Und keines hat eine so abenteuerliche, anekdotenreiche, irrwitzige und signifikante Entstehungs- und Wirkungsgeschichte wie dieses, das (damit wir das gleich hinter uns haben) der US-„Rolling Stone“ zum größten Rockalbum der Achtziger ernannte, obwohl es 1979 erschienen ist.

Die Wurzeln des Meisterwerks reichen tief, sehr tief – bis zurück in die frühen Siebziger und wahrscheinlich noch viel weiter. Aber fangen wir mal im Sommer 1975 an. Es gibt ein grauenhaftes Foto von Mick Jones aus dieser Zeit: Da steht er mit einer (für coole Nasen damals schon) todespeinlichen Flying-V-Gitarre und wirr gekräuselter Riesenmatte in Vorstadt-Mott-The-Hoople-Verkleidung und will ein Rocker sein (Mott The Hoople verdankten ihren märchenhaft kurzen Ruhm übrigens einem Produzenten namens Guy Stevens, von dem wir noch einiges hören werden).

Joe Mellor alias Strummer (nach seiner finger- und saitenzerfetzenden Gitarrentechnik) ist nicht viel besser dran: Er holpert mit der haarschuppenbestäubten Alt-Hippie-Spontikapelle The 101ers (so benannt nach der Hausnummer eines zwischenzeitlichen Quartiers der Kommune, aber auch nach dem ominösen Zimmer in George Orwells Roman „1984“, von dem wir ebenfalls noch hören werden) durch die Kneipen und Anarchoabsteigen und verdient sich als Ersatz-Bob-Dylan in Fußgängerunterführungen ein paar Münzen dazu. Paul Simonon studiert derweil Kunst, Nicky „Topper“ Headon ernährt sich von Klein- und Mittelkriminalität, verprügelt jeden, den er für einen Trottel hält, und liebt Billy Cobham.

Die mittleren Siebziger sind eine traurige Zeit, insbesondere in London, wo sich in der lähmenden Katerstimmung nach dem Abnippeln der in Koksstürmen, besoffenen Bisexorgien und Selbstüberschätzung unvorstellbaren Ausmaßes versunkenen Glamrockszene kaum jemand traut, irgend etwas für neu, wichtig, gar witzig zu halten. Aber irgendwo da drunten, unter den biergetränkten Holzbühnen, auf denen bärtige Pubrockmänner für ein bißchen unverdächtig-nostalgischen Spaß sorgen, keimt etwas. Es ist zunächst nur eine dräuende, aber schnell anwachsende Unzufriedenheit mit der Musik und der Welt insgesamt, die sich in halbanonymen Flugblättern und Graffiti entlädt.

Das vielleicht wichtigste, jedenfalls eines der legendärsten davon ziert Bretterzäune unter dem Westway, einer gigantischen Autobahnüberführung zwischem Paddington und Kensington, die für die Geschichte von The Clash das wohl prägendste Bauwerk auf der ganzen Welt ist. Mick Jones, der bei seiner Oma Stella in Shepherd’s Bush wohnt, sieht das monströse Ding bei jedem Blick aus dem Fenster, es begleitet seinen Alltag auf den Straßen, seine Symbolik lädt den wütenden, träumenden Jungen mit Gefühlen, die er dereinst in Songklassiker pumpen wird, die mehr von London, seiner Realität und Mythologie erzählen als Regale voller Bücher.

Ach so, das Graffito: „Same thing day after day“, steht da, „Tube – Work – Diner – Work – Tube – Armchair – TV – Sleep – Tube – Work – How much more can you take? – One in ten go mad – One in five cracks up“ – ein situationistischer Slogan, der von 1968 übriggeblieben ist und nichts von seiner Aktualität verloren hat, im Gegenteil.

Mick Jones beschließt, aus dem Kreislauf der Lohnsklaverei und ihrer alltäglichen Demütigungen auszubrechen, und gründet eine Band (nicht seine erste, aber die erste ernsthafte) mit dem provokanten Namen London SS. Es ist allerdings weniger eine Band als ein Workshop mit ständig wechselnden Teilnehmern, die sich später bei Generation X, Pretenders, Damned, Sex Pistols, Slits, Johnny Moped, PIL, 999, Siouxsie & The Banshees und anderen Vorreitern der ersten Punkwelle wiederfinden, jetzt aber noch orientierungslos herumirren, zusammen in besetzten Häusern wohnen, sich auf Straßenkrawallen treffen.

Das Äußere spielt eine Hauptrolle: „Too fast to live“ steht nicht nur einfach so auf dem T-Shirt, das Jones trägt, als er eines Tages einen noch viel cooler gekleideten Typen trifft und ihn fragt, ob er zufällig Klavier spielen könne. „Nein“, antwortet Bernie Rhodes, „aber ich mache diese T-Shirts.“ Er macht noch einiges mehr, ist so etwas wie der realpolitische Widerpart zu Malcolm McLarens eher spektakelorintiertem Situationismus (und in mancher Hinsicht dessen Partner). Und schon hat die fluktuierende Band einen Manager.

Richtig spielen kann keiner, außer Schlagzeuger Topper Headon, der sich aber bald wieder verabschiedet, weil ihm die Temptations als Aushilfs-Tourtrommler fünfzig Pfund die Woche bieten. Paul Simonon hat immerhin gelernt, wie man sich eine Gitarre dekorativ um den Hals hängt, aber einen Akkord bringt er nicht zustande; also steigt er auf Baß um, der hat nur vier Saiten. Irgendwann hat der Manager die Faxen dicke und empfiehlt Mick Jones, alle außer Paul rauszuwerfen und ganz neue Leute zu suchen. Er hat die 101ers live gesehen und beschließt: Deren heiser bellender Aufstandsparolenschmied und Frontmann Joe Strummer ist der Richtige.

Joe läßt sich zu einer Probe einladen, erbittet Bedenkzeit, was abgelehnt wird. „Daß er überhaupt angetreten ist, war schon die Entscheidung“, sagt Simonon. „Das war der erste Tag von The Clash.“

Die neue Band und ein Rattenschwanz von Kumpels, die nichts besseres zu tun haben, proben und hausen in einem leerstehenden Kaufhaus („Rehearsal Rehearsals“ getauft), essen Mehl mit Wasser, hören obskure Reggaeplatten und diskutieren situationistische Strategien, die Rhodes‘ Kumpel McLaren mit den Sex Pistols in die Tat umsetzt, allerdings viel zu unpolitisch für Rhodes‘ Geschmack. Die Debatten haben nicht viel mit Musik zu tun. Als das Zentralkomitee zum Thema „Was tun, wenn wir Erfolg haben?“ tagt, träumt der neue Trommler Terry Chimes von „einem Maserati“. Das ist die Sprache des Klassenfeinds! Chimes wird wegen bourgeoiser Anwandlungen vergattert, und weil er die Selbstkritik verweigert, hat die Band wieder keinen Drummer mehr.

Rhodes klappert derweil die Plattenfirmen ab, hält Polydor wochenlang hin und teilt schließlich telefonisch mit: „Wir treffen uns in einer halben Stunde bei CBS.“ Nach der Vertragsunterzeichnung führt ein Sekretär des auch nicht unbedingt proletarischen Branchenriesen die vermeintlichen Punk-Rotznasen in ein leeres Sitzungszimmer und schärft dem Rädelsführer ein: „Wenn die Typen was zertrümmern müssen, dann bitte hier drin, das ziehen wir dann von euren Einnahmen ab. Wir wollen nicht, daß Sekretärinnen vergewaltigt werden oder sonst irgendwas im Haus kaputt geht.“ Das Verhältnis der Angestellten zu ihrem Konzern wird sich in den nächsten Jahren nicht bessern, davon zeugt nicht zuletzt die „Three down, two to go“-Strichliste auf dem LONDON-CALLING-Innencover. Nein, CBS, so viel nehmen wir vorweg, schmiedet von Anfang an nicht nur Nägel zum Sarg der Band, sondern liefert auch das Holz und den Schreiner.

Die „Anarchy In The UK“-Tour mit Sex Pistols, The Damned und Johnny Thunders‘ Heartbreakers soll der Clash-Revolution zum Durchbruch verhelfen, aber daraus wird nichts. Von dreißig gebuchten Konzerten bleiben nach dem Bill-Grundy-TV-Skandal der Pistols nur drei oder vier übrig: „Wir saßen alle in diesem Bus und fuhren durch ganz England, um uns erzählen zu lassen, daß wir schon wieder nicht spielen dürfen. Und vor der Halle standen diese Kirchenleute und sangen ihre Lieder, um uns zu bekehren.“ Aber immerhin: Anfang 1977 gelten The Clash als „dritte Kraft“ des Punk, obwohl sie im Gegensatz zu Pistols und Damned noch keine Platte draußen haben.

Die entsteht an drei Wochenenden in den CBS-Studios, mit Terry Chimes, weil kein Ersatztrommler aufzutreiben ist. Paul starrt beim Spielen unverwandt auf seinen Baßhals: Da sind die Töne aufgemalt. Im April 1977 erscheint das hektisch eingespielte Debütalbum, das auf Platz zwölf der UK-Charts stürmt – und in den USA nicht veröffentlicht wird: „Zu unkommerziell“ sei es, befinden die mächtigen Herren im Vorstand des dortigen CBS-Labels Epic. Kurze Zeit später ist The Clash die meistverkaufte Importplatte der US-Geschichte; heute gilt es unumstritten als eines der besten und wichtigsten Rock-’n‘-Roll-Alben überhaupt.

Die zeitgenössischen Pressereaktionen sind schon zuvor vielversprechend: The Clash seien „die Art von Garagenband, die man schleunigst wieder in ihre Garage schaffen sollte, am besten bei laufendem Motor“, schreibt Lester Bangs im NME. The Clash antworten mit dem Song „Garageland“, der das Album beschließt und die unsterbliche Zeile enthält: „I don’t wanna know about what the rich are doing / I don’t wanna go to where the rich are going.“ Ein frühes und typisches Beispiel für Joe Strummers geniales Talent, Weltpolitik und Agitation an alltäglichen Kleinigkeiten aufzuhängen, aus scheinbar zufällig gewählten Namen und Anekdoten Zusammenhänge zu konstruieren, die weit über das Jahr 1977 und die britische Arbeiter- und Arbeitslosenklasse hinaus Wirkung entfalten.

Nach einer Woche mit dem späteren Culture-Club-Schlagzeuger Jon Moss (der „zu sauber“ wirkt), trifft Mick Jones bei einem Kinks-Konzert im Rainbow seinen alten Freund Topper wieder, der diesmal Zeit und Lust hat und zum Rückgrat der Band wird, ohne das die weitere Entwicklung undenkbar wäre. „Als ich dazukam, haßten Mick, Joe und Paul Funk, Jazz, überhaupt alles, was nicht Punkrock war“, erzählt Headon später. „Sie waren aber auf dem NME-Titel, deshalb dachte ich: Ich mache das ein Jahr lang mit, dann habe ich einen Namen und kann was richtig Musikalisches anfangen.“ Die neuen Kollegen erweisen sich jedoch als unerwartet neugierig – und als ideale Ergänzung. Toppers erste Platte mit The Clash, die am 23. September 1977 erschienene Single „Complete Control“ (inhaltlich eine wütende Reaktion darauf, daß CBS ohne Wissen und Zustimmung der Band „Remote Control“ als Single ausgekoppelt hat), nennt der US-Kulturkritiker Greil Marcus später „die beste Rock-’n‘-Roll-Aufnahme aller Zeiten“.

Jenseits der Musik bleiben die Slogans und Parolen vorläufig ohne große Wirkung, und die tatsächlichen Auseinandersetzungen mit System und Staatsgewalt beschränken sich auf kleine Scharmützel: Joe und Paul legen sich nach einem Konzert in Glasgow mit Saalordnern an und verbringen die Nacht im Knast, wo sie einen Teil ihres Publikums wiedertreffen und gemeinsam „The Prisoner“ singen. Einige Tage später bringt Topper ein Luftgewehr zu einer Fotosession mit, steigt aufs Dach und schießt auf Brieftauben. Die Polizei vermutet einen Terroranschlag, umstellt das Gebäude und verhaftet die Band. Ein anderes Mal geht es um ein paar geklaute Kissen aus einem Hotelzimmer. Aber der Ärger steigert wenn schon nicht die Street-credibility, dann doch immerhin den inneren Zusammenhalt, und so gehen The Clash als eine von ganz wenigen stabilen Bands aus der Ende 1977 zerfallenden Punkszene hervor.

Die bietet Anfang 1978 ein deprimierendes Bild: die Pistols in den USA havariert, die Clubs geschlossen, der Geist von Aufbruch und Revolte (zumindest politisch) verflogen und verweht. The Damned heißen The Doomed, strampeln ohne Plattenvertrag herum und wechseln täglich Musiker aus. The Jam liegen auf Eis, weil Paul Weller verliebt ist und keine Songs mehr schreiben mag; andere tauschen Gitarren gegen Synthesizer und proben schon mal die Achtziger.

In der allgemeinen Verwirrung und Ermüdung orientieren sich The Clash an der einzigen Szene, deren Verbindung zu Unterdrückung, Aufruhr und Widerstand ungebrochen ist: Reggae und Dub. Die Single „White Man In Hammersmith Palais“, eine bitter-zynische Abrechnung mit der gescheiteren Revolte und eine Vorahnung des „Winter of Discontent“, der Ende des Jahres den neoliberalen Kahlschlag des Thatcher-Regimes einleitet, ist ein Meisterwerk. „All over people are changing their votes / Along with their overcoats“, krächzt Strummer zu einem unwiderstehlich scheppernden Ska-Gassenhauer-Arrangement. „If Adolf Hitler flew in today / They’d send a limousine anyway.“

Die Botschaft kommt an; im Clash-Windschatten machen Songwriter wie Elvis Costello und Tom Robinson radikale Politik chartsfähig. Beim „Rock against Racism“-Open-air agitieren The Clash als Headliner mitten in London fast 100.000 Menschen, und für einen kurzen Moment weht noch einmal der heiße Wind des Sommers 1976 durch die Stadt. Aber das zweite, von Sandy Pearlman (Blue Oyster Cult) allzu rockig produzierte Album enttäuscht viele, und dann eskalieren die Streitereien mit Bernie Rhodes, dem „seine“ Band viel zu systemkonform geworden ist.

Als Give ‚Em Enough Rope im November erscheint, ist Rhodes seit zwei Monaten arbeitsloser Inhaber leerstehender Übungsräume, und The Clash wagen den halsbrecherischen Versuch, sich selbst zu managen, in Person von Pauls Freundin, der Sixties-Frauenrechtsaktivistin Caroline Coon, die sich mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip um die Geschäfte kümmert, was anfangs erstaunlich selten in die Hose geht – aber genaugenommen war ja schon Bernie Rhodes in dieser Hinsicht nicht mehr als ein genialischer Dilettant.

Erst mal geht alles gut. Give ‚Em Enough Rope erreicht Platz zwei der UK-Charts, eine US-Tournee mit dem grenzwertig unverschämten Motto „Pearl Harbour ’79“ (und Fifties-Legende Bo Diddley im Vorprogramm) verläuft erfreulich. Nach der Rückkehr Ende Februar wird jedoch schnell klar, daß die Sache so einfach nicht ist: Der Wirrwarr von Verträgen, Klauseln, Verhandlungen, Terminen und sonstigen Nebentätigkeiten kostet Zeit und Nerven, die Schulden (nicht zuletzt bei CBS aufgrund des komfortablen Vorschusses, von dem Bernie Rhodes einen nicht geringen Teil in andere Projekte wie Subway Sect und The Specials sowie in die eigene Tasche gesteckt hat) werden erdrückend, obdachlos ist die Band außerdem.

Also werden die Roadies Johnny Green und Baker Glare losgeschickt, um einen neuen Proberaum zu suchen, und finden eine ehemalige Gummifabrik in der Causton Street im Stadtteil Pimlico, in der Sportwägen aufgemotzt werden und zwei Räume leerstehen. Der verfallende Gebäudekomplex (Anfang der Neunziger abgerissen, heute steht dort eine Kirche, was ein grandioser Treppenwitz ist, wenn man bedenkt, daß Joe Strummer dort das unvergängliche Couplet schrieb: „But I believe in this, and it’s been tested by research / Who fucks nuns, will later join the church“) hat den Vorteil, daß dort niemand eine Band vermuten würde. „Es war so was wie eine Riesengarage mitten im Nichts“, sagt Paul Simonon. „Wir waren völlig unter uns, wir, Johnny und Baker. Das war das Team.“

Und damit beginnt die fruchtbarste und glücklichste (oder: die einzig glückliche) Zeit im Leben von The Clash als Band. Vormittags trifft man sich auf dem Sportplatz einer nahegelegenen Schule zum Fußballspielen, dann geht’s an die Arbeit. Die Songs, die im Mai und Juni 1979 in den „Vanilla Studios“ genannten neuen Räumen entstehen, sind anders als die alten, und sie sind zahlreich. Im Juni sagt Joe Strummer zu Charles Shaar Murray vom NME: „Stell dir vor, eine Band geht her und macht eine 16-Spur-LP auf zwei TEAC-Tonbandgeräten. Das senkt den Faktor Studiokosten dramatisch. Dann gibst du das Tape der Plattenfirma und sagst ihnen, wie billig die Aufnahme war – und du kannst auch heute noch eine LP für zwei oder drei Pfund verkaufen.“

Die Aussage ist nicht nur deshalb interessant, weil sie die „Value for Money“-Politik der Band widerspiegelt (und die über ihr schwebende Drohung, CBS könne keine Lust mehr haben, ein drittes Album der renitenten Aufrührer zu finanzieren, die sich standhaft jeder Kommerzialisierung verweigern – die verweigerte Finanzierung einer US-Tour im Juni, deren Absage Caroline Coon ihren Job kostet, ist ein deutliches Signal), sondern auch weil nun das Gerücht umgeht, The Clash würden ihre nächste Platte selbst produzieren und seien schon mitten dabei.

Das ist aber laut Mick Jones nur „ein Bluff, um die Plattenfirma zu verarschen“. Tatsächlich haben Johnny und Baker auf Empfehlung von Who-Tontechniker Bob Pridden von dessen Arbeitgebern zwei TEAC-Tonbandgeräte und ein kleines Mischpult gemietet, um die neuen Songs aufzunehmen, aber nur als Demos für den ins Auge gefaßten Produzenten, der, so verlangt es CBS, „namhaft“ sein soll.

Der Name, für den sich The Clash entscheiden, ist ein lautes „Fuck you!“ an die Plattenfirma – und selbst eine Rock’n’Roll-Legende: Guy Stevens, der einst Micks Idole Mott The Hoople (denen er ebenso wie Procol Harum ihren Namen gab) mit Parolen wie „Los, wir zünden das Studio an! Das wird uns zu noch größeren Taten inspirieren!“ zu der flammenden Bande von übermütigen Irren machte, die sie eigentlich nie waren, hat außerdem Free, Traffic und Spooky Tooth produziert, vor allem aber als DJ im „New Scene Club“ Anfang der Sechziger u. a. Beatles, Rolling Stones, Small Faces, Eric Clapton, The Who (die er entdeckt hat) und unzählige andere Bald-Stars mit den Songs bekanntgemacht, die ihre ersten Platten füllten, als Label-Geschäftsführer für Island Records gearbeitet und mit Pye Records Chuck Berry und Bo Diddley nach Großbritannien gebracht.

Er gilt als unberechenbarer Wahnsinniger; in den letzten Jahren ist er in der Versenkung (und im Schnaps) verschwunden. Niemand weiß, wo er ist, bis ihn Joe schließlich in einem Pub in einer Seitenstraße der Oxford Street findet, seine Zeche zahlt und ihn überredet, sich doch noch mal hinter ein Mischpult zu setzen oder wenigstens die neuen Demos anzuhören. Leider hat Stevens nicht mal einen Kassettenrekorder, also wird Johnny Green losgeschickt, einen zu kaufen – läßt das Ding aber mitsamt der einzigen vollständigen Kassette in der U-Bahn liegen.

Die originalen „Vanilla Tapes“ geraten in Vergessenheit, bis sie Mick Jones 2004 bei einem Umzug in seinem riesigen Sammellager wiederfindet. Das ist aber nicht weiter wichtig. Stevens kennt The Clash: 1976 war er schon mal bei einer Demosession für Polydor dabei, ist aber bald wieder abgedampft, genervt von den Label-Yuppies und weil es Demos in seiner Weltsicht sowieso nicht gibt.

Der Mann mit dem Riesenbart willigt ein, und Anfang August 1979 – drei Monate nach Thatchers Regierungsantritt, mit dem der Film „Rude Boy“ endet, und Joe Strummers Ernennung zum „Alternative Prime Minister“ durch die Leser des NME – versammelt man sich in den Wessex-Studios in Highbury. Stevens‘ „Arbeitsweise“ würde jede andere Band um den letzten Nerv bringen: Er wirft Stühle herum und zertrümmert Möbel, während The Clash spielen, läßt Bänder laufen, ohne Bescheid zu geben (so gelangt auch die zum allerersten Warmspielen gedachte Version von „Brand New Cadillac“ aufs Album), schüttet eine Zweiliterflasche Wein in den nagelneuen Flügel (weil Toningenieur Jerry Green kein Geld hat, um einen Taxifahrer zu bezahlen, den Stevens den ganzen Tag lang als „Helfer“ dabehalten hat – bei laufendem Taxameter) und Bier in den Fernseher (der dabei explodiert), telefoniert stundenlang mit Mott-Sänger Ian Hunter, legt sich vor den Rolls von CBS-Boß Maurice Oberstein (um ihn am Wegfahrten zu hindern, solange er nicht bestätigt hat, wie großartig die Aufnahmen sind), beschallt das Studio mit Fußballchören und verschwindet zwischendurch auch mal längere Zeit, wenn ihm gerade danach ist.

Stevens‘ Anteil an der wirklichen Studioarbeit wird überschätzt: Er ist schwerer Alkoholiker, liegt bisweilen einfach nur in der Ecke oder säuft sich in derartige Zustände, daß er zum Ausnüchtern in einen Schrank gesperrt werden muß, und nach zwei Wochen – nach der Flügel-Episode, die der Band eine immense Reinigungsrechnung einbringt – wird er heimgeschickt und kehrt nicht wieder. Seinen Platz am Mischpult übernehmen Studioinhaber Bill Price und Mick Jones.

Aber für The Clash erweist sich der im Grunde seiner Seele liebenswerte Chaot (der am 29. August 1981 an einer Überdosis seines Entzugsmedikaments stirbt) als unschätzbare Quelle der Inspiration; er erweitert ihren musikalischen Horizont in alle Richtungen, führt sie an die Wurzeln dessen, was sie in den letzten drei Jahren nur andeutungsweise versucht haben, trägt dazu bei, aus der ein- bis zweidimensionalen Punkband mit Reggae-Neigung die stärkste, beste, überzeugendste, relevanteste und klassischste Rock-’n‘-Roll-Band ihrer Zeit zu machen. „The only band that matters“ wird anstelle des Bandnamens auf den Plakaten der nächsten Tour stehen, und wer The Clash in der Zeit nach London Calling auf der Bühne erlebt (oder auch nur das Album hört), findet das kaum übertrieben.

Die Hauptprobleme der Band im Sommer 1979 erweisen sich als Katalysatoren für die Entstehung eines Jahrhundertalbums. Erstens: Es gibt keine Szene, kein aktuelles Genre mehr, dem sie angehören könnten. Punk ist lange vorbei, mit New Wave und Postpunk haben sie nichts am Hut, das befreit sie von allen Formaten und führt sie an die Quellen rebellischer Musik: zu den Dubpiraten Jamaikas, zum Rockabilly der Fünfziger-US-Outlaws, auf die Baumwollfelder von Louisiana, zu den Ranters des englischen 17. Jahrhunderts (ein Coup übrigens, der ein gutes Jahrzehnt zuvor den Rolling Stones gelungen ist und an dem sich U2 ein knappes Jahrzehnt später die Zähne ausbeißen werden).

Zweitens: Sie haben kein Management, sind allen gängigen Strukturen des Popgeschäfts entfremdet (oder eben: davon befreit), ganz auf sich allein gestellt und haben als Kindergärtner ausgerechnet den wahrscheinlich notorischsten Irren der ganzen Popwelt gewählt. Wie sollte da etwas anderes herauskommen als ein Meisterwerk oder ein völliges Fiasko? Der dritte Faktor ist die Zeit: Es sind gerade mal gut drei Jahre seit der allerersten Probe vergangen – drei Jahre, in denen sich die Band um Lichtjahre und Welten weiterentwickelt hat, mit einem derartigen Tempo, daß sie unmöglich merken kann, auf welch dünnem Seil sie tanzt.

Nach Stevens‘ Abgang wird ernsthaft gearbeitet. Und schnell, dabei aber jederzeit spontan: „Spanish Bombs“ schreibt Joe eines Nachts beim Heimfahren in der U-Bahn, am nächsten Tag ist es aufgenommen. Anfang September sind achtzehn Songs fertig. Das Mischen übernimmt Bill Price alleine, weil The Clash am 8. in die USA müssen – dort hat sich das zweite Album ohne jede Promotion 200.000mal verkauft, was CBS dazu bringt, das Debüt nun doch zu veröffentlichen (allerdings mit anderem Tracklisting – in der „Village Voice“ nennt es Robert Christgau dennoch „das wahrscheinlich wichtigste Album, das je in Amerika erschienen ist“) und die Tournee zu finanzieren.

Daß die überhaupt stattfinden kann, liegt möglicherweise auch an zwei Absagen: Ein von den Undertones organisiertes Festival in Derry canceln The Clash, nachdem die britannientreue Terrorgruppe Red Hand Commando gedroht hat, Joe Strummer zu erschießen (der dennoch als einziger gegen die Absage stimmt), und die Einladung, als erste „westliche“ Band in Kuba zu spielen, wird abgelehnt, um nicht unter das US-Boykott zu fallen (und weil Mick Jones keine Lust hat, zur Unterstützung der Revolution einen Tag lang auf einem Zuckerrohrfeld zu arbeiten).

Ende August sieht die Band ein, daß es unmöglich ist, sich auf Tournee auch noch um die alltäglichen Geschäfte daheim zu kümmern. Das erfahrene Blackhill-Management von Peter Jenner und Andrew King (einst für Syd Barretts Pink Floyd, jetzt u. a. für Ian Dury zuständig) wird angeheuert, Micks Kumpel Kosmo Vinyl, zuvor für Stiff Records tätig, übernimmt die Pressearbeit.

Ein entspannter Trip wird die Tour dennoch nicht. The Clash weigern sich weiterhin so vehement, sich in die gängigen Strukturen des Showgeschäfts zu fügen, daß sie damit nicht nur Radio-, Presse- und Labelleute, sondern zumindest den unentschlossenen Teil ihres eigenen Publikums vor den Kopf stoßen. Von einer freundlichen Journalistin gefragt, ob er eine Botschaft für Amerika habe, schnappt Joe: „Freßt weniger!“

Andere müssen froh sein, nur mit diversen „Scherzen“ aus dem Konzept gebracht zu werden. Als sich ein Radiomoderator in Chicago für ein abgesagtes Interview entschuldigt, indem er der Band ein paar Nutten in die Garderobe schickt, platzt Mick Jones der Kragen. Seine folgende Erläuterung der Clash-Politik ist schlüssig, aber sehr laut und an der Grenze zur Handgreiflichkeit. Ein Ausfall von Paul Simonon wiederum geht in die Rockgeschichte ein: Am 21. September zertrümmert er im New Yorker Palladium aus purer Lust und Laune seinen Baß. Pennie Smith, die als NME-Fotografin die dreißigköpfige Reisetruppe verstärkt, drückt zweimal auf den Auslöser, ehe sie zur Seite springt – und schafft eines der bekanntesten Coverfotos überhaupt (von dessen Verwendung sie allerdings abrät, weil es „unscharf“ ist).

Der ebenfalls für den NME mitreisende Zeichner Ray Lowry wird beauftragt, die Hülle zu gestalten, und greift auf eine uramerikanische Ikone zurück: das erste Album von Elvis Presley, dessen Lettern er für die Beschriftung der Platte kopiert.

Als wirkliches Problem erweist sich Topper, der am 7. Oktober nach einem Besuch an Buddy Hollys Grab in Lubbock und dem anschließenden Gig eine Überdosis Heroin erwischt – ein düsteres Vorzeichen, ebenso wie ein Interview, das Mick – kurz zuvor nach einem Einbruch wieder zu seiner Oma gezogen und von seiner Freundin verlassen – dem NME-Reporter Paul Morley gibt: „The Clash sind alles für mich. Ich habe alles für sie aufgegeben. Ich habe den Eindruck, daß ich alles verloren habe: mein Zuhause, mein Privatleben, alles. Das ist also wohl irgendwie mein Dilemma: daß ich das The Clash übelnehme.“

Daß er auf einem Abstecher nach Kanada am 26. September vor dem Grenzübertritt gezwungen wird, sein ganzes Haschisch wegzuwerfen, und sich anderntags weigert, sein Hotelzimmer zu verlassen, bevor ihm nicht jemand einen Joint besorgt, ist die erste von vielen Eskapaden der Selbstdurchsetzung, mit denen er schließlich, vier Jahre später, seinen Rauswurf herbeizwingt – und das Ende der Band, die er von Anfang an (und nicht ganz zu Unrecht) als seine empfunden hat.

Aber vorläufig bleibt der Deckel auf dem köchelnden Topf, obwohl am Ende der Tournee sogar die Roadies streiken (weil das CBS-Geld ausgeht und die Kreditkarten mitreisender Journalisten herhalten müssen). Anfang Oktober fliegt Bill Price ein und hat die ersten Mischungen des neuen Albums dabei, die die nächsten Tage bis zum Ende der Tour am 15. Oktober den Tourbus beschallen. Die Platte (Arbeitstitel: „The New Testament“) ist aber noch nicht fertig: Anfang November handelt Kosmo mit dem NME die Beilage einer exklusiven Schallfolie aus, Mick schreibt in derselben Nacht aus dem Stegreif „Train In Vain“, das sofort aufgenommen wird. Dann ist dem NME die Sache doch zu teuer, also muß der Song noch auf die Platte, obwohl die Covers schon gedruckt sind – so entsteht der vielleicht erste „echte“ „hidden track“ („Her Majesty“ von den Beatles war ja eher ein kleiner Scherz).

Das Format des Albums war inzwischen Gegenstand eines Streits, in dem sich The Clash ein einziges Mal gegen CBS durchgesetzt haben: Sie bestanden anfangs auf einem Doppelalbum zum Preis einer Einzel-LP, CBS lehnte strikt ab. Als Epic der US-Ausgabe des Debüts als Marketingtrick eine Single beilegt, bietet Kosmo dies auch CBS für das neue Album an. Weil der „Trick“ erfolgreich war, sagt CBS ja. The Clash fragen, ob es auch eine 12-Inch-Single sein darf, was ein offenbar minderbemittelter CBS-Angestellter ebenfalls bejaht, woraufhin die Band darauf besteht, es müsse eine „Single“ mit acht Songs sein, die auf 33 Umdrehungen läuft. Nun sind es sogar neun Songs … Aber der Triumph währt nicht lange, weil CBS nun ihrerseits das Album als Einzel-LP rechnet und deshalb – der Vertrag läuft über fünf – zwei weitere verlangt (daher die erwähnte Strichliste).

Ein weiteres düsteres Vorzeichen ist der Videodreh für die Single „London Calling“ auf der Themse nahe Battersea: Die eisige Kälte und der Regen ruinieren das gemietete Equipment, das Johnny Green hinterher einfach über Bord wirft. Das kostet „nur“ ein paar hundert Pfund – daß die Band sich weigert, für die anstehende Tournee größere Hallen zu buchen (um die Fans nicht zu betrügen), ist hingegen ein weiterer Schritt in den finanziellen Ruin, der sich in den folgenden Jahren wie ein Gewitter über The Clash zusammenzieht und dem sie scheinbar frohen Mutes entgegenstürmen, indem sie als nächstes eine Triple-LP zum Preis einer einzelnen veröffentlichen (und nebenbei noch je ein Album mit Joe Ely und Micks neuer Freundin Ellen Foley aufnehmen), weiterhin Playbackauftritte im Fernsehen ebenso verweigern wie Reklameaufträge, mal wieder das Management feuern und alles selber machen wollen.

Am 27. Januar 1980 kommt es nach einem Auftritt im „Top Rank“ in Sheffield zu einer Streiterei zwischen Joe und Mick (aus harmlosem Anlaß: ersterer will „White Riot“ als Zugabe spielen, zweiterer nicht), die damit endet, daß Jones Strummer seinen Wodka Orange drüberkippt und einen Faustschlag ins Gesicht bekommt, der ihn vom Stuhl reißt und Abdrücke hinterläßt, die tagelang zu sehen sind.

Die seelischen Wunden schmerzen viel länger. Die Band, die Ende Februar zu ihrer dritten US-Tournee aufbricht, mag (wie der „Rolling Stone“ meint) „die größte Rock-’n‘-Roll-Band der Welt“ sein, sie mag drei Jahre später nach zerrüttenden Kämpfen und dem Kniefall vor den Zwängen des Musikbusiness kurz vor ihrem kläglichen Ende doch noch den ganz großen Durchbruch schaffen. Aber ob sie wirklich noch eine Band ist, wird bald zweifelhaft – zumindest wird sie nie wieder die Band sein, die sie 1979 war.

Das ist es, was London Calling so zeitlos, so umwerfend großartig und auf ganz eigene Weise perfekt macht: Es ist ein Schnappschuß wie der auf dem Cover, ein zufälliges, ungeplantes, unfertiges Momentbild aus seiner Zeit, der – zumindest ist das die Botschaft des Albums, wie aller wirklich großen Rock-’n‘-Roll-Alben – verrücktesten, aufregendsten, offensten und vielversprechendsten Zeit des späten 20. Jahrhunderts, als einen Moment lang alles möglich schien und die Welt vier jungen Kerlen gehörte, die ein paar Monate zuvor noch unter der Westway-Überführung herumgelungert waren.

geschrieben im Dezember 2009 für den MUSIKEXPRESS, dort im Dezemberheft zum 30. Jubiläum der Platte erschienen; der Titel „40 Jahre, 13 Tage“ weist darauf hin, daß ich mir die Platte am 21. Dezember 1979 gekauft habe – im Münchner Plattenladen „Montanus“ gegen den Rat eines dort arbeitenden Freundes, der sie „zu poppig“ fand

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