„London Calling“ – Song für Song (ein Nachtrag für Nerds)

… was man zu den einzelnen Songs wissen mögen könnte (aber nicht muß):

London Calling

Man vergißt gerne, daß The Clash zu „Lebzeiten“ in Großbritannien keine Top-10-Single hatten. Der Titelsong war mit Platz 11 ihr größter Erfolg. Der Text war anfangs eine Klage über Touristen in Soho, dann verlangte Mick Jones (von dem die Akkorde stammen) etwas mit mehr aktueller Bedeutung. Die Inspiration kam vom Nachrichtenjingle des Senders BBC World Service; Joe Strummer „las ungefähr zehn Zeitungen an einem Tag, in denen es um alle möglichen Plagen ging, die uns drohten“, und packte alles hinein, was an Apokalyptischem und Agitatorischem zu erdenken war, vom Beinahe-GAU im Atomkraftwerk Three Mile Island („meltdown expected“) über Lohnsklaverei, Rassismus und Drogen bis hin zum wiedererwachten Starkult in der britischen Popmusik („phoney Beatlemania has bitten the dust“). Billy Altman schrieb in „Creem“, die lyrische Vision sei derart „explosiv und fordernd, daß der Rest der Platte textlich wirkt wie schwache Zugaben zu einer These, die bereits so treffend ausgedrückt ist, wie man sie nur ausdrücken kann“. Und Toppers unaufhaltsam fließender Drei-Achtel-Groove war etwas, was man im Punkrock bis dahin nie gehört hatte.

Brand New Cadillac

Radio-DJane Annie Nightingale wettete mit Joe Strummer um einen Cadillac, daß „London Calling“ die Top 10 schaffen würde, aber das hat mit dem Song nichts zu tun. Der stammt von Pauls Rockabilly-Idol Vince Taylor (dem Vorbild für David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust), der sich später für den „Propheten Matthäus“ hielt und sich 1968 bei seinem letzten Auftritt zunächst weigerte, die Bühne zu betreten, weil er glaubte, wenn er singe, werde „alles explodieren“ (tatsächlich brannten, als er dann doch zu singen begann, PA und Lichtanlage durch), und ist laut Topper „der erste britische Rock’n’Roll-Song“ (1958 als B-Seite seiner dritten Single „Pledgin’ My Love“ erschienen). Die Clash-Version (die zweite einer Punkband – 1978 hatten bereits The Fall den Song gecovert) entstand am ersten Tag der Aufnahmen, als Guy Stevens heimlich beim Warmspielen das Band laufen ließ – ein klassischer „First Take“. „Guy, das können wir nicht nehmen“, wandte Topper ein, „es wird schneller!“ Stevens: „Geil! Jeder gute Rock’n’Roll wird schneller!“

Jimmy Jazz

The Clash als lässige Swingband – ein Jahr zuvor so denkbar wie ein Dubreggae von AC/DC. Joes Text ist eine Art London-Jamaika-Version der Stagger-Lee-Legende (siehe „Wrong ‚Em Boyo“), samt Anspielung auf den Abyssianians-Klassiker „Satta Massagana“ und diverse alte Gangsterfilme.

Hateful

Einer von zwei Drogensongs auf LC – eine indirekte Widmung an den alten Kumpel Sid Vicious („this year I lost some friends“), der am 2. Februar 1979 in New York starb, als The Clash (die noch am 19. Dezember einen Benefizgig für die Kosten seines Mordprozesses gespielt hatten) gerade zum ersten Mal US-amerikanischen Boden betraten. Daß Mick und Paul auch gelegentlich mal die Nase ins „Sniff“-Päckchen steckten, war für die Zukunft weniger bedeutsam als Toppers ungesündere Neigung in diese Richtung, die auffiel, als immer mal wieder Schlagzeugteile vom Sponsor Pearl aus dem Studio verschwanden und in Pfandleihen wieder auftauchten. Der Rhythmus stammt vom Tourpartner Bo Diddley.

Rudie Can’t Fail

Ursprünglich im Frühjahr 1979 für den Film „Rude Boy“ aufgenommen (der auch so heißen sollte), als „Nachruf“ auf Hauptdarsteller Ray Gange, – was Joe später abstritt und mehrere neue Erklärungen lieferte, wer und warum da laut Text „Bier zum Frühstück“ trank. Auch hier wird ein Reggaeklassiker erwähnt: Dr Alimantados „Born For A Purpose“, und der 19er-Bus in der ersten Zeile ist der, mit dem Joe von seiner neuen Wohnung an der Kings Road in World’s End ins Studio fuhr.

Spanish Bombs

Hier mischen sich mehrere Einflüsse (und Mythen): die Internationalen Brigaden (denen sich u. a. auch George Orwell anschloß), die im spanischen Bürgerkrieg gegen die Franco-Faschisten gekämpft hatten, Nachrichten über Bombenanschläge der ETA gegen die spanische Tourismusindustrie, Bücher von Federica García Lorca (die Joe damals verschlang) und John Steinbecks „Früchte des Zorns“. Zudem kam Strummers Exfreundin Palmolive aus Andalusien (wohin er selbst nach dem Fiasko des allerletzten Clash-Albums floh). Joe hatte die Idee um vier Uhr früh auf dem Heimweg vom Vanilla-Studio (ausnahmsweise mit einem Taxi, in dem das Radio lief); geschrieben wurde der Song „auf Platz 18B“ der im Text erwähnten DC-10 (von Braniff Airlines).

The Right Profile

„Lies das! Wenn du über jemanden einen Song schreiben willst, dann über Montgomery Clift“, sagte Guy Stevens zu Joe Strummer und gab ihm Patricia Bosworths Biographie des Hollywoodstars (seine wichtigsten Filme erwähnt der Text), der nach einem Autounfall 1956 und den folgenden Operationen den „längsten Selbstmord der Hollywood-Geschichte“ beging, indem er sich über zehn Jahre mit Drogen zugrunderichtete. Der Titel spielt darauf an, daß Clift nach dem Unfall nur noch von rechts gefilmt werden durfte, weil die linke Seite seines Gesichts gelähmt war. In Wirklichkeit ist der Song freilich eine Hommage an Guy Stevens selbst, dem die Band nach seinem Tod auch die elegische Ballade „Midnight To Stevens“ widmete.

Lost In The Supermarket

Mick Jones singt, der Text ist von Joe Strummer, aber aus Micks Perspektive und für ihn geschrieben (Jones: „als Ode an ein paar Freunde, die wir noch nicht kennen“) – und dennoch autobiographisch: Erinnerungen an die Kindheit im Vorort Warlingham und das spätere Leben in Hochhausapartments mischen sich mit dem echten Supermarkt unter dem Wolkenkratzer, wo Joe jetzt wohnte, wo ihm die Idee kam, während er um fünf Uhr morgens einkaufen war – „verwirrt von all den Farben und Lichtern“. Die Idee, die Snare durch ein Standtom zu ersetzen, hatte Topper bei einem Taj-Mahal-Konzert am Abend vor der Aufnahme.

Clampdown

Hieß als Instrumental erst wochenlang „Working And Awaiting“, dann „For Fuck’s Sake“. Der Zündfunke für den Text war auch hier die Beinahe-Atomkatastrophe in Harrisburg; es geht aber – mit Anspielungen auf das Naziregime in Deutschland, den Kapitalismus und seine religiöse Ideologie, moderne Diktatoren und diverse andere Repressionsmechanismen – um die Grundidee, sich dem „Clampdown“, dem allgegenwärtigen System von Arbeit und Unterdrückung, zu entziehen und es zu bekämpfen, notfalls mit Gewalt („Let fury have the hour / Anger can be power / D’you know that you can use it?“). Strummers Gemurmel in der Einleitung ist inzwischen entziffert, bleibt aber mysteriös …

The Guns Of Brixton

Der erste von zwei Songs, die Paul Simonon für The Clash schrieb – ein Ausflug auf die andere Seite der Themse in das damals heruntergekommene, inzwischen „gentrifizierte“ Arbeiter- und Ausländerviertel, in dem Paul, Mick und Topper geboren und aufgewachsen sind. Die melancholisch-rebellische Militanz des Textes wirkte angesichts der Rassenunruhen der 80er in Brixton wie eine düstere Prophezeiung und schlug sich in Simonons Gesang nieder: „Das Mikro stand genau vor der Glasscheibe des Regieraums, und direkt vor mir, hinter dem Glas, saß irgend so ein amerikanischer CBS-Kerl, der mich echt ankotzte.“ Die Bassfigur recycelte Fatboy Slim 1990 für den Beats-International-Hit „Dub Be Good To Me“ – gewissermaßen der erste Nummer-eins-Hit und die erste britische Top-10-Single der Band (der/die zweite war 1991 die Neuauflage von „Should I Stay Or Should I Go“).

Wrong ’Em Boyo

Die Volksliedlegende von dem afroamerikanischen Zuhälter und Kutscher Stagger Lee Shelton und dem Mord an Billy Lyons 1895 ist eines der ältesten und meistverwendeten Songthemen der US-Geschichte – es gibt sogar Theorien, nach denen der Song älter ist als die Tat selbst, und Shelton seinen Spitznamen deshalb erst erhielt. Die meisten Bearbeitungen gehen in irgendeiner Form auf die Version zurück, die Mississippi John Hurt 1928 aufnahm. The Clash coverten den Song nach der Vorlage der jamaikanischen Skaband The Rulers. Dem Polizeibericht zufolge gerieten Lyons und Shelton in einem Saloon in St. Louis über Politik in einen Streit, wobei Lyons seinem Freund den Hut vom Kopf riß und sich weigerte, ihn zurückzugeben, worauf Shelton den Revolver zog. In „Wrong ’Em Boyo“ bleibt die Politik (untypischerweise) außen vor – Anlaß der Tat ist hier ein Würfelspiel.

Death Or Glory

Die uralte Geschichte von der Vergeblichkeit allen Strebens und der Vergänglichkeit aller Ideale ist selten so perfekt in Worte und so simple in Akkorde gefaßt worden wie hier: „I believe in this and it’s been tested by research / He who fucks nuns will later join the church“ – Joe Strummer meint das durchaus autobiografisch. Während die Band den Song aufnahm, stürmte Guy Stevens in den Raum und warf Stühle an die Wand.

Koka Kola

Daß es um die in den „oberen Etagen“ und vor allem an den Börsen grassierende Kokain- und Speedmode geht, schlägt sich über den Text hinaus in der geradezu atemlosen Interpretation des Songs nieder, den Joe Strummer in diesem Tempo nur hinkriegt, indem er ein paar Zeilen regelrecht ausspuckt. Er wusste, wovon er sang: Sein eigener Speedkonsum Mitte der 70er kostete ihn Nerven und Zähne.

The Card Cheat

Mick Jones’ erstes Meisterstück als Produzent: Um den Sound der klassischen Ballade (die alle vier Bandmitglieder als Komponisten listet) „so groß wie möglich“ zu machen, nahm er jedes einzelne Instrument doppelt auf – ein simples Rezept, mit dem schon Phil Spector Erfolg hatte, das hier aber gerade noch vor der Kitschgrenze Halt macht. Auch der Text (ebenfalls von Jones) ist eine gewaltig ausgreifende Metapher auf Verfall und Untergang des Vereinigten Königreichs, aufgehängt an einem Pokerbetrüger, der (ein Echo von Stagger Lee) erwischt und erschossen wird.

Lover’s Rock

Der Titel zitiert die Genrebezeichnung für eine Reggaespielart, in der es um Liebe und Romantik geht – der Text allerdings nimmt sein Thema beim Wort und fährt eine (vielleicht etwas halbherzige) Attacke auf Sextouristen, die alleinerziehende Mütter zurücklassen. Die vermeintliche Machopose wurde von Kritikern vielfach missverstanden und der Band (ebenso wie ihre beliebten Flirts mit bewaffneter Gewalt) gehörig um die Ohren gehauen; der NME warf Strummer und Jones vor, sie könnten keine glaubwürdigen Liebeslieder schreiben – was die Clash-Fans Manic Street Preachers dazu brachte, von vorneherein konsequent (zumindest bis 1996) auf Lovesongs zu verzichten, da diese „konterrevolutionär“ seien.

Four Horsemen

Auch diese (selbst-)ironische Abrechnung mit dem Starkult um Popmusiker, die wahlweise als die vier Reiter der Apokalypse oder eine Ganovenbande wie die „Lucky Luke“-Daltons dargestellt werden, bekam nicht jeder in den richtigen Hals. Musikalisch ist auch nicht allzu viel dran – der einzige Song auf dem Album, den man als „Füller“ bezeichnen könnte, oder wohlwollender: als kleinen Moment der Entspannung für Beine und Hirn.

I’m Not Down

Mick Jones nimmt den Faden von „Hate & War“ (erstes Album) wieder auf: Ihr könnt mir die Knochen brechen, aber meinen Willen brecht ihr nicht. Das mag ihm zur Selbstmotivation angesichts privater Katastrophen und Fährnisse gedient haben, es mag auch eine etwas selbstgerechte Darstellung des Erwachsenwerdens sein – aber der inhaltliche „Knick“ kommt in der letzten Strophe: „So you rock around and think that you’re the toughest in the world / The whole wide world / But you’re streets away from where it gets the toughest / You ain’t been there.“

Revolution Rock

Noch eine Coverversion – diesmal der einzigen Single, die der jamaikanisch-britische Reggaestar, Produzent, Schauspieler und Labelgründer Danny Ray mit seiner Band The Revolutioneers aufnahm (1976). Die Clash-Version entstand ursprünglich für den Film „Rude Boy“.

Train In Vain

Laut „Rolling Stone“ der 292stbeste Song aller Zeiten – geschrieben und aufgenommen in ein paar hektischen Stunden für eine geplante Schallfolie, die der NME dann aber aus Kostengründen cancelte, weshalb auch diese Nummer noch aufs Album kam, aber auf dem bereits gedruckten Cover nicht erwähnt werden konnte. Das US-Label koppelte den Schnellschuss als Single aus – der erste von zwei Top-40-Hits, die The Clash in den USA landen konnten. Den Titel des (doch, lieber NME) ziemlich anrührenden Liebeslieds erklärte Autor Mick Jones so: „Der Rhythmus erinnerte an eine Eisenbahn, und wieder mal hatte ich ein durchdringendes Gefühl der Verlorenheit.“ Kurz zuvor hatte ihn seine Freundin Viv Albertine verlassen, die Gitarristin der Slits – mag sein, dass der Song eine Antwort auf deren „Typical Girls“ war, in dem es um Mädchen geht, die „zu ihrem Mann stehen“. Die Anspielung an Robert Johnsons „Love In Vain“ (von den Rolling Stones auf Let It Bleed gecovert) ist für Bluesfans nicht zu überhören, die Ähnlichkeit des Riffs mit dem J.-J.-Jackson-Hit „But It’s Alright“ von 1966 schon eher.

geschrieben im Oktober 2009 als Nachtrag und Zusatz zu dem vorangegangenen Text

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