Riesig! (und ewig)

Der 28. April 1975 war ein luftig-schöner Tag, aber solche Tage gibt es viele in einem Kinderleben, und nur die wenigsten davon bleiben fünfundzwanzig Jahre lang im Gedächtnis wie ein ungeschickt geschnittener Super-8-Film. An diesem Tag machte ich eine Begegnung, die ich lange herbeigesehnt hatte, ohne es zu wissen (das sind die intensivsten Begegnungen!).

Es gab – und vielleicht gibt es sie noch – eine kleine Holzhütte an der Bahnstrecke von München nach Deisenhofen. Wenn man in Giesing losradelte, fuhr man eine gute Stunde geradeaus durch den Perlacher Forst, dann durch eine kleine Unterführung, und direkt danach stand man auf der anderen Seite der Gleise ein bißchen erschöpft vor der Holzhütte. Die hatte ein Fenster, hinter dem die alte Frau Nußbaum saß und alles bereithielt, was Vorbeikommende dringend brauchten: Halsketten und Armbänder aus kleinen Preß-Puderzucker-Ringen, gelben Kaugummi, Lakritzschnecken, pastellfarbene Brausestangen, Valencia-Limonade, Bier für die Erwachsenen. Und natürlich Eis: neben dem Fenster hing die Karte von Langnese, die jedes Frühjahr mit einigen spannenden Innovationen aufwartete.

Daß für die neuen Eise alte aus dem Sortiment verschwanden, fiel kaum auf. Am 28. April 1975 war das ziemlich unpraktische Twinni von der Karte verschwunden, das einzige Eis mit zwei Stäbchen – was eine nette Idee, aber ohne großen Genußwert war. Erstens führte es dazu, daß man beide Hände voll zu tun hatte und an heißen Sommertagen damit überfordert war, dauernd abwechselnd zu schlecken, damit nicht rechts oder links die Finger mit klebriger Soße überzogen wurden. Zweitens hätte man mit den beiden Stäbchen nur etwas anfangen können, wenn es sich nicht um ordinäre Holzstücke, sondern um »Stikker« gehandelt hätte, mit denen man angeblich tolle Sachen bauen konnte. Die gab es aber nur bei Dr. Oetker, und Dr.-Oetker-Eis gab es in ganz Giesing nur in einer einzigen Metzgerei, wo dann logischerweise die »Stikker«-Sorten meistens ausverkauft waren.

Bei Dr. Oetker gab es auch das bis dahin einzige Waldmeistereis, den Grünhopser, der noch seltener zu kriegen war als die anderen »Stikker«-Sorten, weil Waldmeister der Gipfel der Genüsse war. Nun stand auf der Langnese-Karte anstelle von Twinni (und neben anderen, bereits ausgiebig durchprobierten Neuerungen wie Miami Flip, Berry und Ko Kos) ein dreifarbiges Eis: Dolomiti. Das sei »riesig«, verkündete die Reklame, und das war es auch, denn der unterste (und dickste!) der drei Abschnitte war grün, und grün hieß (vor der einige Jahre später plötzlich aus den Chemielabors über die Welt hereinbrechenden Grüner-Apfel-Welle): Waldmeister!

Daß Dolomiti eine Gebirgslandschaft darstellen sollte, wäre auch dann egal gewesen, wenn man es bemerkt hätte. Die Gestaltung eines Eises spielte praktisch nur beim Düsenjäger eine Rolle, aber auch der begann nach Sekunden mit dem Schmelzen und war daher als Spielzeug nicht wirklich verwendbar. In der Dolomiti-Idee steckte außerdem ein Widerspruch: Um an das grüne Waldmeisterparadies (die Baumzone quasi) zu kommen, mußte man zunächst zitronig-weiße Gipfel und eine tiefrote, undefinierbar nach einer Art Beere schmeckende Mittelzone durchqueren. Das war keine besonders aufregende Schlecktour, denn Zitrone gab es sogar in den langweiligeren italienischen Eisdielen (neben Vanille, Schokolade, Nuß, Erdbeer und zwei exotischen, aber recht »erwachsenen« Varianten namens Malaga und Toroncino), und nach einer Art Beere schmeckte praktisch jedes Bonbon, das nicht wirklich nach etwas schmeckte.

Aber dann: Waldmeister! Der Traum war perfekt, die Zunge färbte sich (durch die Mischung von rot und grün) schmutzig braun, und nach dem ersten Dolomiti mußte ein zweites her – nach einer kleinen Pause, denn der Waldmeisternachgeschmack im Mund war zu wertvoll, um ihn gleich wieder mit Zitrone zu verderben.

Beim zweiten Dolomiti durfte meine Tante probieren. »Das Eis ist optimal«, stellte sie fest, und wahrscheinlich folgte ein drittes Dolomiti. Abends zu Hause hatte mich eine derartige Eisbegeisterung erfaßt, daß ich sofort damit begann, alle erreichbaren Flüssigkeiten einzufrieren und zu verspeisen. Tee-Eis, Milch-Eis (mit Vanillinzucker), Himbeer-Sirup-Wassereis und Kakao-Eis mit Zimt kamen nicht entfernt an Waldmeister heran, aber immerhin: es war Eis, es wurde verschlungen, unter den skeptischen Blicken meiner Mutter, die die Folgen vielleicht schon ahnte. Auch die nächste Nacht blieb mir unauslöschlich im Gedächtnis, denn da machte ich die Erfahrung, wie es ist, wenn man plötzlich aufwacht und auf einmal so dringend brechen muß, daß man es nicht einmal mehr aus dem Bett heraus schafft.

An Dolomiti lag das natürlich nicht. Oder doch? Einige Zeit später verschwand das dreifarbige Gebirge wieder von den Sortimentskarten; man munkelte, es sei verboten worden, wegen der Unmengen von Farbstoff und chemischem Aroma, die das »Kunstspeiseeis« enthielt. Viele Jahre später war es wieder da – etwas matter und geschmacklich verändert: immer noch zitronig, immer noch grün, aber ohne diesen einmaligen, klassischen, weichen und runden Waldmeistergeschmack. Gibt es den eigentlich überhaupt noch?

Übrigens ist nicht alles Gold, was glänzt, auch nicht wenn es eine Kindheitserinnerung ist. Prüfende Recherchen sorgen manchmal für große Überraschungen und bringen den ehernen Gedächtnisfels zum Bröckeln. Keineswegs ist Dolomiti erst am 28. April, noch nicht einmal 1975 auf Karte und Welt erschienen, lieferbar war es vielmehr von 1973 bis 1987 und dann, auf vielfachen Wunsch, aber inhaltlich »gebremst«, 1994 und 1995 noch einmal. Aber Langnese führte 1975 tatsächlich ein Waldmeistereis ein: den Grünofant, der allerdings peinlich hieß und peinlich aussah und deshalb nur allein und heimlich verzehrt wurde (und 1978 ausstarb). (Es bleibt indes ein Erinnerungsrätsel, was an dem Namen und dem Eis peinlicher gewesen sein soll als am Grünhopser.)

Welche Bedeutung der kühle Geschmack in der Kindheit als lebenslänglich prägendes Element hat, läßt sich im Internet nachvollziehen: Neben hunderten von Fanseiten für Sechziger- und Siebzigerprodukte wie Ahoi-Brause, Dubble-Bubble-Kaugummi und selbstverständlich Eis gibt (oder gab) es einen hochoffiziellen »Wunschbarometer« der Firma Langnese, auf dem man für die Wiedereinführung »klassischer« Sorten stimmen kann (oder konnte). Zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen führt der Braune Bär – aber auf Platz zwei steht, weit vor Flutschfinger, Carnaby-Becher, Disco und anderen – Dolomiti.

Wir könnten, wo wir schon einmal bei den Fakten sind, noch ein wenig weiter ausholen und den Namen Josef Seyfert aus Hamburg-Wandsbek ins Spiel bringen. Der nämlich ist an allem schuld: Er war es, der die Idee hatte, gefrorene Milch- und Wasserprodukte nicht (nur) in Waffelhörnchen und Becher zu füllen, sondern sie an einen Stiel zu kleben. 1935 eröffnete Seyfert in der Hansestadt einen kleinen Eisladen, nannte ihn mit (erkaufter) Genehmigung des Honigproduzenten V.E.H. Langnese eben so und führte die revolutionäre Neuerung ein, die sich gleich in der ersten Saison sensationell gut verkaufte. Dann jedoch bekam Seyfert Schwierigkeiten, da die Behörden der Hitler-Regierung die Verwendung von Rohmaterialien bei Nahrungsmitteln stark einschränkten. 1936 kaufte der Lebensmittelmulti Unilever Herrn Seyfert für 50.000 britische Pfund den Firmennamen Langnese ab – übrigens ein Kuriosum unter den bekannten deutschen Markennamen: Ursprünglich hatte ein Biskuithersteller auf seinen Reklametafeln ein freches kleines Mädchen abgebildet, das dem Betrachter mit der Hand eine »lange Nase« drehte. Die Werbung war so erfolgreich, daß die Backwaren bald auch »Lang Nese« hießen – zunächst im Volksmund, dann ganz offiziell. Der Honig schloß sich dem erfolgreichen »Branding« an.

Unilever stellte die Produktion um, das Eis wurde durch Tiefkühlung hygienisch und haltbar, konnte über weite Strecken transportiert und flächendeckend verbreitet werden. Der Langnese-Slogan der dreißiger Jahre paßte zum politischen Zeitgeist: »Eiscreme für alle« – und zwar für alle dieselbe, einer von vielen Fällen kultureller »Gleichschaltung« über Ländergrenzen hinweg.

Seyferts Idee war nicht nur bei den schleckenden Kunden ein Erfolg: Auch bereits 1935 begann der Nürnberger Theo Schöller sein Schöller-Eis am Stiel zu verkaufen. Mit dem Krieg schien jedoch alles zu Ende; erst Mitte der fünfziger Jahre gelang es Langnese mit den Sorten Happen, Domino und Eis am Stiel (in Alufolie verpackt und später in Jolly umbenannt), Eiscreme vom Ruch des elitären Luxusartikels zu befreien. Weitere Verkaufsschlager und Evergreens folgten: 1959 zur ersten Italienurlaubswelle der Orangenklassiker Capri, 1961 der Magnum-Vorläufer Nogger, 1963 das bis heute aus deutschen Kinosälen nicht wegzudenkende Eiskonfekt.

Soweit die Fakten. Doch mögen sie sagen, was sie wollen, meinetwegen auch rechthaben und stimmen und wahr sein – in meiner Erinnerung steht für alle Zeiten der 28. April 1975 für die erste Begegnung der Geschmacksknospen auf meiner Zunge mit dem saftig grünen Waldmeisteraroma eines Dolomiti. Und für immer höre ich die Stimme meiner Tante: »Das Eis ist optimal!«

geschrieben im Dezember 2000 für ein Magazin, das dann leider nie erschienen ist

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