Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren): Broken Social Scene „Forgiveness Rock Record“ (2010)

Gegen moderne Mythen ist schwer anzugehen, z. B. gegen den, Broken Social Scene sei eine musikalisch ganz besonders wertvolle Sache, wegen der Vielseitigkeit und den „sprudelnden“ oder „sprühenden“ Ideen etc. Man könnte die Einleitung dieses Albums heranziehen und feststellen, daß es sich dabei um ein müdes, spannungsfreies Geklöppel handelt, man könnte den Großteil der weiteren Stücke als schematisch aufgebaute, mit Unmengen von Tricks, Effekten und Geräuschen verkleisterte Primitivkompositionen entlarven und wird trotzdem zu hören bekommen, das alles sei doch wahnsinnig einfallsreich und versponnen.

Ist es nicht, Punkt; aber so funktioniert sie, die Beeindruckungsshow, die mit „Chase Scene“ beginnt, einem gehetzten Effektgewitter, das an eine beschleunigte Mutation des beinbehaarten Hardrock-Disco-Folterwerkzeugs „I Was Made For Loving You“ von Kiss und schlimme Momente von ELO erinnert. Danach wird es erträglicher, aber es passiert weiterhin wenig, was musikalisch zu nennen wäre. Vor allem sind die lauteren Passagen der Platte rhythmisch derart schwerfällig, schwungfrei und tumb geraten, daß man dem Schlagzeuger in den Hintern treten möchte, und so drückt man immer wieder entnervt die Skip-Taste – und wähnt sich auf einem ganz anderen Album gelandet, wo ganz andere Leute ganz anderes versuchen, denen aber auch nicht mehr einfällt als zwei, drei Akkorde, banales Taktgeklopfe und ein tiefer Griff in die Kiste mit dem akustischen Schnickschnack.

Das ist das Problem dieser Band, die mal sechs, mal 19 Mitglieder hat – weil Brendan Canning und Kevin Drew jeden mitklöppeln, -zupfen, -säuseln und sonst was tun lassen, der gerade in Ontario rumschwirrt und Zeit hat – und die ebenso wie die Flaming Lips und Animal Collective pseudo-„intellektuellen“ Pop-Nerds als Musterbeispiel für moderne Experimentalität, Offenheit, gar Genialität dient: Diese Art der Mythosbildung funktioniert um so besser, je weniger es dem vielköpfigen Haufen gelingt, harmonische Vielfalt, melodische Greifbarkeit oder gar kompositorische Brillanz (also etwas „Normales“) zu erzeugen. Hier ist alles auf Bombast, auf ein schlichtes Mehr! und Lauter! gegründet, wird nicht komponiert, sondern gestapelt. Das beeindruckt den Laien; aber nicht den, der weiß, wie leicht sich so etwas am Computer erledigen läßt.

Das alles wirkt dann auch gar nicht wie eine Band, sondern wie das zusammengeclusterte Werk eines einzelnen Bastlers ohne Gespür für Maß und Schönheit, wie der ewig wachsende Legoturm eines Kindes, das Größe mit Höhe verwechselt (wobei allerdings der Lerneffekt ausbleibt, weil der Klangturm einstürzt, ohne daß es sein Erbauer merkt) –, das liegt an der rhythmischen Leblosigkeit, an Überproduktion, Effektklimbim und der Unausgewogenheit, die sich automatisch einstellt, wenn jemand dermaßen viel Zeug übereinander stapelt.

Aber seien wir nicht zu hart: „Texico Bitches“ und „Ungrateful Little Father“ sind hübsche Pop-Skizzen, die auch von The Elevator Drops oder Clap Your Hands Say Yeah sein könnten und zwar ebenfalls weder Chorus noch sonstige kompositorische Feinheiten aufweisen, aber nett zu hören sind, und „All To All“ wirkt zwar wie eine Geisterbahnparodie von Blondies „Heart Of Glass“, funktioniert aber atmosphärisch. So gibt es noch einige Momente, die man immerhin ohne Fracksausen anhören kann, aber ein Album entsteht daraus nicht, höchstens ein wüster Wust überwiegend unbrauchbarer Demos für zehn bis zwölf Projekte.

Schade, daß Canning und Drew offenbar ihrem eigenen Genialitätsmythos aufsitzen und sich nicht die Mühe machen, die Gleichförmigkeit der Konstruktion ihrer Stücke wenigstens hier und da aufzubrechen und zu erweitern, statt einfach immer noch mehr an Tonzeug draufzuschaufeln. Aber vielleicht ist das keine Frage des Wollens, sondern des Könnens – dann sollten sich die zwei lieber darauf beschränken, als Ideenlieferanten und Arrangeure Platten anderer Leute hier und da etwas Pep zu verleihen.

geschrieben im März 2010 für KONKRET

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