Deutschlands wichtigstes faschistoides Hetzblatt berichtete neulich von einem „Werkstattgespräch“ der CDU. Nun wissen manche von uns aus eigener Erfahrung, daß es in einer Werkstatt nicht immer zimperlich zugeht. Da ist der Humor gerne mal fäkal, die Mentalität von schweröliger Konsistenz, Handgreiflichkeit nicht nur bei Rohrzange und Schraubenschlüssel gefragt, und wenn gehobelt wird, dann fallen Späne auf die Leberkässemmel.
Nicht anders bei der sogenannten Christenunion, die sich zu diesem Zweck eigens einen Polizisten in die Werkstatt holte, wahrscheinlich wegen der beruflichen Nähe zur erwähnten Handgreiflichkeit. Der zierte sich nicht, als es darum ging, mal so richtig auf den Tisch zu hauen. „Unseren Rechtsstaat“, ließ er sich zitieren, täte er „nie in Frage stellen, aber bei Abschiebungen ist er teilweise hinderlich“. Nicht nur das! möchten wir spontan hinzufügen. „Teilweise hinderlich“ ist so ein Rechtsstaat nämlich auch bei Mord und Totschlag, Sengen und Brennen, Lynchjustiz und Wegelagerei, und helfen tut er in anderen Fällen sowieso nicht viel, zum Beispiel wenn es darum ginge, besonders dummen Dummschwätzern ihr dummes Geschwätz zu verbieten, selbst wenn sie es in ein Millionenmedium hineintrompeten und damit die erwähnten Straftaten mindestens aufwiegelnd begünstigen. Und dafür sorgen, daß offenbar die gesamte deutsche Bevölkerung keine anderen Probleme mehr hat als die schnellstmögliche Abschiebung von möglichst allem und jedem außer jeweils sich selbst.
Als ich klein war, gab es das Wort „abschieben“ zwar schon, aber bedeutet hat es etwas anderes als heute. Nämlich laut Brockhaus neben dem tektonischen Vorgang, in dessen Verlauf es zu einer „relativen Abwärtsbewegung einer Gesteinsscholle“ kommt, vor allem „eine Verwaltungsmaßnahme, durch die Personen (Landstreicher, Arbeitsscheue u. ä.) aus einem bestimmten Gebiet zwangsweise entfernt werden“. Nun gibt es zwar das Wort „arbeitsscheu“ – mit dem u. a. im Juni 1938 die ersten Masseneinlieferungen deutscher Juden in Konzentrationslager begründet wurden – offiziell seit 1945 zumindest in der deutschen Verwaltungssprache nicht mehr. Aber bis sich das in eine Lexikonredaktion hinein herumspricht, das dauert halt eine Weile (in diesem Fall: 21 Jahre, bei „Bild“ noch bis … wer weiß).
Auch die Diskriminierung von Landstreichern, also Notleidenden, die so arm waren, daß sie sich eine Seßhaftigkeit nicht leisten konnten und gezwungen waren, mehrere Tätigkeiten nebeneinander auszuüben und deswegen „unstet im Lande umherzuziehen“ (wie das Bayerische Innenministerium 1953 das Verhalten „nach Zigeunerart“ nannte), ist nicht mehr sonderlich populär, seit diese Lebensweise im Spätkapitalismus zwangsläufig mehrheitsfähig geworden ist und kaum noch jemand längere Zeit am selben Ort leben darf.
Aber gerade deshalb fragt man sich doch, wie eine deutsche Bevölkerung, die zum größten Teil selbst mit der ständigen Bedrohung einer Abschiebung durch „Arbeitsagenturen“, „Arbeitgeber“ und fiese Vermieter vegetieren muß, mit derartigem Geifer die brutalstmögliche Abschiebung von Menschen fordern kann, denen es noch schlechter geht, egal was am Zielort der Maßnahme mit ihnen angestellt wird.
Die Antwort ist einfach: Der Grund ist Frust, Haß, Wut und Zorn. Weil einem die Wohnung, das Haus, das Land, in und auf dem man wohnt, nicht selber gehört und man ständigen Schikanen der angeblichen Eigentümer ausgesetzt ist. Um sich gegen die zu wehren, müßte man sich auf den Kopf stellen und nach oben treten, und ein Akrobat ist der Deutsche höchstens eliteweise bei Olympia, drum tritt er nach unten und wehrt sich gegen die, die weder etwas dafür noch dagegen können und bei denen seine Treterei ihm absolut nichts und den Getretenen nur Verdruß bringt.
Dabei könnte es sehr wohl hilfreich sein, vielleicht nicht gleich den ganzen Rechtsstaat, aber ein paar seiner Prinzipien doch mal in Frage zu stellen. Wie kommt denn überhaupt ein Mensch auf die wahnwitzige Idee, ihm könne ein Stück des Planeten gehören – und zwar so sehr gehören, daß er dieses Stück sogar seinem Nachwuchs vererben darf? Was „gehört“ ihm denn da, wenn ihm zum Beispiel eine Wohnung gehört, die er selber vielleicht noch nicht mal gebaut hat? Der Luftraum, den sie umfaßt? Der Boden darunter? Und bis zu welcher Tiefe? Und steht er dann auch für die Folgen gerade, wenn es zum Beispiel auf seinem Boden zur „relativen Abwärtsbewegung einer Gesteinsscholle“ kommt oder ein Vulkan herausbricht und alles außenrum zerbrennt und vermüllt? Nö. Dann zahlt die Allgemeinheit, also auch die auf dem Boden kauernden Mieter, die der Eigentümer jahrzehntelang ausgepreßt hat.
Und wie kommt es überhaupt, daß der Boden, auf dem sämtliche irdischen Lebewesen (von denen wir viele noch nicht mal der Art nach kennen) leben, jemandem gehört? Daß das nicht „schon immer“ so war, ist klar. Schließlich gibt es den Menschen insgesamt noch nicht sehr lange, und das Geld, das er damit anhäuft, noch viel kürzer. Also hat es irgendwann irgend jemand beschlossen. Und warum? und wozu? und mit welchem Recht? Und wieso wurde dieser Beschluß nicht sofort wieder aufgehoben, als sich abzeichnete, daß dadurch die zwei größten Übel der Weltgeschichte entstanden (Armut und Reichtum)? Unser Polizist meint: „Die rechtsstaatlichen Verfahren müssen gestrafft werden. Es sollte keine Möglichkeit mehr geben, Entscheidungen anzufechten.“ Aber daß das gemeingefährlicher Faschistenblödsinn ist, lernt man zum Glück in der Schule.
Ich weiß, wir leben im Kapitalismus, der geht nicht ohne Eigentum. Ist ja auch okay, daß jedem das gehört, was er braucht und worin er wohnt. Aber etwas zu haben, nur um andere, die nichts haben, zum Arbeiten und Vagabundieren zwingen zu können und selber reich zu werden, während die anderen vor lauter Wut die halbe Menschheit irgendwohin abschieben? Und sich dabei auf ein Recht berufen, von dem niemand mehr weiß, wo es herkommt?
Da könnte ich auch hergehen und an der nächsten Ampel einen Automaten aufstellen, in den jeder, der die Straße überqueren will, hundert Euro schmeißen muß. Schließlich habe ich die gesamte Luft in unserer Straße schon mindestens zehnmal ein- und wieder ausgeatmet, also habe ich da irgendein Recht oder kann zumindest eines konstruieren. Und wenn die ersten drei Deppen ihren Hunderter eingeworfen haben, ist daraus schon ein Gewohnheitsrecht geworden. Was ist an meinem Gedankengang falsch? Und wodurch unterscheidet er sich nicht vom Gedankengang eines durchschnittlichen Münchner Vermieters?
Diese Fragen könnten wir uns mal stellen und müßten dafür nicht mal den Rechtsstaat insgesamt in Frage stellen, sondern ihn höchstens ein bißchen geraderücken. Und wenn dann eines Tages alles beantwortet und geklärt ist, braucht kein Polizist mehr in eine CDU-Werkstatt hineingehen und abschließend behaupten: „Ich bin froh, daß diese Wahrheiten endlich ungeschönt zur Sprache kamen.“
Weil die Wahrheit dann nicht mehr geschönt werden muß. Weil sie schon schön ist. Und vor allem – im Gegensatz zum faschistoiden Hetzgebrüll – wahr.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.