Frisch gepreßt #425: Fucked Up „Dose Your Dreams“

Hardcore ist ein höchst eigentümliches Genre. Es entstand Ende der 70er Jahre und beruhte auf der (mutmaßlich irrigen) Annahme, die Unbeholfen- und -gehobeltheit, die den Bands der dritten bis fünften Punkrockliga mangels künstlerischer und handwerklicher Mittel mehr oder weniger zwangsläufig unterlaufen war, sei in Wirklichkeit ein Stilmittel oder müsse zumindest unbedingt zu einem solchen erhoben werden. Man verzichtete folglich auf alles, was den Verdacht eines Strebens nach Schönheit oder Anspruch, nach Verfeinerung, Tiefe und Ambivalenz erregen hätte können, und konzentrierte alle Kraft und Energie darauf, das nackte Geräuschgerüst so massiv, laut, grimmig, brutal und primitiv wie nur möglich in die Welt zu wuchten.
Das Ergebnis war manchmal beeindruckend brillant (etwa auf den ersten beiden Alben der UK Subs), oft peinlich bis lächerlich und grundsätzlich witzlos. Hardcore zeigte den Zustand der verrotteten, kurz vor der endgültigen Explosion stehenden Welt und Gesellschaft ungefiltert eins zu eins: Statt Atombomben melodisch zu beklagen, zündete man sie.

Jedes Genre hat seine Grenzen, und da es sich bei Hardcore um ein Genre handelte, dessen Grenzen per Grundannahme so eng, stramm und eisern festgezurrt waren, daß kein Haar darüber hinausragen durfte, drehte sich die Sache bald ziemlich im Kreis, so ungefähr wie ein Propeller, dessen Rotoren durch die Beschleunigung immer kürzer werden und sich deswegen immer schneller drehen. Jeder über „Schramm!“ hinausgehende Gitarrenton, jede rhythmische Synkope, jede vokale Äußerung, die sich von einer kehlkopfkrebskranken Luftschutzsirene unterschied, wies den Urheber als Ketzer aus, der umgehend ins Reich der Popmusik verstoßen wurde.

Spätestens Mitte der 80er war Hardcore im wesentlichen eine stetig wachsende Ansammlung auch optisch identischer wandelnder Mülltonnen, deren ununterscheidbare akustischen Ausstoßungen, auf Samplerreihen wie „Killed By Death“ dokumentiert, die Hirnlähmung abbilden, die sie zugleich erzeugen.

Das ist inzwischen völlig anders, zumindest punktuell, zumindest bei Fucked Up, deren Name auf den ersten Blick so klischeemäßig wirkt, daß die Ironiefahne, die dahinter herauslappt, nicht zu übersehen ist. Fucked Up gelten als Hardcoreband, der „Gesang“ von Damian „Pink Eyes“ Abraham scheint (!) die Einordnung zu bestätigen, aber alles andere (und letztlich auch das) ist das exakte Gegenteil (auch von sich selbst). Das fängt an bei Künstlernamen wie 10.000 Marbles, Concentration Camp/Gulag, Mustard Gas, Young Governor und, ähem, Mr Jo, die an eine historiopsychotisch entgleiste Phantasie von Cpt. Beefheart denken lassen.

Und es endet noch lange nicht bei dem Anspruch, auf dem neuen Album eine Rockoper zu inszenieren, die den Helden ihrer letzten Rockoper („David Comes To Life“, 2012), der zufällig so heißt wie der musikalisch nicht beteiligte Chefdenker David Eliade, durch eine Welt aus Gier, Konsumismus und Social-Media-Wahn begleitet, auf der Suche nach der Fähigkeit zu träumen, strukturell angelehnt an die 18 Kapitel von James Joyce‘ „Ulysses“ und vertont mit einem Riesenaufgebot an Instrumenten, Gästen, Arrangements, Brüchen, Zwischenspielen, Anleihen aus so ziemlich jeder coolen Richtung von Doo-wop bis Krautrock.

Und das soll Hardcore sein? Irgendwie schon, anders verstanden, als Ultraradikalität, was die stilistischen und sonstigen Mittel angeht – um alles, was gängig und gewöhnlich ist, machen Fucked Up seit jeher einen galaxisweiten Bogen. Man höre als zufälliges Beispiel mal ihren „Song“ „Looking For Gold“ von 2004: 16 Minuten, 18 Gitarren, drei Minuten Schlagzeugsolo und sechs Minuten Pfeifen. Aber die Frage, was es ist, läßt sich eigentlich nur mit dem Gegenteil von allem beantworten. Und das ist vollkommen egal.

Derartige Ansprüche gehen leicht mal in die Hose und sind in der Geschichte der populären Musik fast immer in die Hose gegangen. Und das ist das eigentlich Erstaunliche, was dieses Album über alle Kuriosität hinaus zur echten Sensation macht: Hier geht NICHTS in die Hose, kein Song, keine Passage, keine Zeile, kein Ton. Schon nach den ersten vier Tracks des Doppelalbums ist selbst dem tumbsten Hörer klar: Hier werde ich nicht verarscht oder überfordert, sondern mitgerissen in ein tobendes Destillat feinster Ohrwürmer und Instant-Klassiker, die mich den Rest meines Lebens begleiten und begeistern werden.

Dies ist dabei aber ein Album, das so randvoll ist mit Geschichten, Rätseln, Doppel- bis Fünffachdeutigkeiten, mit Poesie und Genie, daß es über die grandiose Musik hinaus Stoff für tatsächlich ein ganzes Leben bietet. Stellen wir es ins Regal mit den größten Doppelalben aller Zeiten, irgendwo zwischen „The Beatles“, „London Calling“, „Exile On Main Street“, „Warehouse: Songs & Stories“ und so weiter, ziehen wir es immer wieder raus und legen es auf und danken wem auch immer, daß er uns einst die UK Subs geschenkt hat, ohne die – so absurd das klingt – es „Dose Your Dreams“ wahrscheinlich nicht gäbe.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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