Belästigungen 21/2018: Der Mensch muß „los“! Und dann … ist er weg (wie alles andere auch)

Wir leben in mobilen Zeiten. Das bringt manchmal bizarre Auswüchse hervor. Zum Beispiel tendieren in meinem Wohnbereich Schlüssel, Telephone, Tabakbeutel, Kaffeelöffel, Haarspangen (nicht meine!) und andere Kleinteile dazu, plötzlich in Aufbruchsstimmung zu geraten und sich auf den Weg zu machen. Sucht man sie, sind sie … na ja, mutmaßlich irgendwo dort, wo man halt gerade so hinfährt, weil man da ein Praktikum machen oder Fitneßtätigkeiten betreiben kann. Gibt man die Suche erschöpft auf und kauft oder bestellt Ersatz, trudeln sie plötzlich wieder ein und tun so, als wär nichts gewesen.

Aber da sich dieses Phänomen auf meinen Wohnbereich beschränkt, hat es auf die allgemeine Weltlage weniger Einfluß. Wesentlicher ist, was die dafür zuständigen Damen und Herren für unsere Zukunft so vorhaben und zum Teil
schon in die Tat umsetzen.

Die Zukunft, sagte einst Karl Valentin (so ungefähr), war früher auch besser. Der Papst sagt: Wichtig sei es, „Zukunft zu schaffen“. Die kommt nämlich nicht einfach so aus Kalendern und Uhren heraus! Gleichzeitig (während mir der Radio diesen Bullshit ans Ohr klebt) strömen laut Nachrichten 95 Prozent aller Regierungschefs der Welt zur UN-Vollversammlung nach New York, und man fragt sich, wann die Gelegenheit für einen James-Bond-mäßigen Schurken, der die Weltherrschaft anstrebt, je günstiger war: Der müßte seine Schergen ja praktisch nur noch hineintrommeln in die verwaisten Regierungspaläste, und schon könnte er genau die Zukunft schaffen, die seinesgleichen seit Goldfinger, Largo und Blomfeld erträumen.

Andererseits: Wie sollen Schergen von Großbösewichten heutzutage und erst recht im nahen Übermorgen irgendwo hinkommen? Wenn sie nicht an der ersten Straßenecke in ein selbstfahrendes Teslamobil hineinkrachen, das gerade einer feiernden Teenagermeute ausgewichen ist, hagelt und wimmelt es an der nächsten Straßenecke (eine Postfiliale!) nur so von Amazon-Lieferdrohnen, die dringend benötigte weitere Drohnen in die Bestellhaushalte hineinliefern müssen, aber nicht können, weil die dortig einwohnenden Besteller jobtätig sind und daher mobil (also ähnlich unterwegs wie meine Tabakbeutel und Briefkastenschlüssel).

Dann rumpelt eine Herde autonomer Lieferwagen daher, die zwar (wie der experimentelle Hersteller vermutet) „Verkehrszeichen und Ampeln erkennen können“, mit erratisch herumtobenden Hunden und einem plötzlich einsetzenden Gewitter aber heillos überfordert sind und sowieso ebenso niemanden antreffen wie die Lieferdrohnen, also wieder zurückfahren, irgendwohin.

Hinzu kommt: der normale Autoverkehr, der bis zum plötzlichen Zusammenbruch der Erdölwirtschaft noch mindestens zehn Jahre lang anschwellen, röhren und die Städte verstopfen wird – zumal die einzelnen Autos in den letzten zwanzig Jahren um jeweils zehn Kubikmeter Volumen, eineinhalb Tonnen Gewicht und dreihundert PS Terrorstärke gewachsen sind, dafür aber statt einstmals drei bis fünf nur noch je einen Insassen transportieren. Hinzu kommen Logistikpanzer, die das Zeug, das in die Lieferdrohnen und autonomen Lieferwagen hineingestopft und in der Gegend herumturbuliert wird, von Stadt zu Stadt karren. Hinzu kommen am Ende dann auch noch Ministerpräsident „Bavaria One“ und sein Autoförderungskabinett, die nach drei Frühstücksweißbier mit ihren Lufttaxis in die Staatskanzlei zu jetten beabsichtigen, aber im wahnwitzigen Gewitter der oben erwähnten Fahr-, Drohn- und Luftzeuge nur noch wild herumeiern können.

Wenn einer davon unmittelbar nach der Notlandung von einem selbstfahrenden Rasenmäher (womöglich entlaufen) zerschreddert wird, haben wir die nächste Regierungskrise am Hals und die CSU kommt am Ende nur noch auf 28 Prozent Wählerstimmen, weil der Rest … unterwegs ist.
Hinzu kommen … nein, kommen nicht. Zwar haben inzwischen Millionen von Privatdrohnen die vordem Vögeln und Insekten zukommende zivilisatorische Aufgabe übernommen, sich von Flugzeugturbinen zerfetzen und an Autoscheinwerfern plattfetzen zu lassen. Vögel und Insekten ruhen sich nun aber nicht etwa aus, sondern sind trotzdem weg, weil ihr einst so heiliger Luftraum zum wimmelnden „Standort“ (H. Kohl und Nachfolger) oder vielmehr zum tödlichen Wimmelbild (A. Mitgutsch und Nachfolger) entartet ist.

Mitten durch das Gesamtchaos von autonomen Flug-, Fahr-, Schweb- und Schwirrzeugen schießen (Gott sei Dank zum Großteil in Tunnelröhren) die einst unter dem romantischen Namen „Eisenbahn“ firmierenden Transportdosen, mit denen lebende Menschenwesen von einem Ort, Job bzw. Praktikum zum nächsten geballert werden, um dort Geld zu erzeugen und abzuliefern, nachdem sie einen Schlafplatz ergattert und die nächstliegenden Abgabestellen für Nahrungssurrogat und Koffein gefunden haben.
Wozu sie das tun, wozu das alles insgesamt und überhaupt gut sein soll, ist ein welthistorisches Rätsel – angeblich wollen die erwähnten Menschendarsteller unter anderem „sich verwirklichen“, was aber Bullshit ist, weil nachweislich noch nie einer von ihnen „wirklich“ geworden ist. Sie vegetieren ein paar Jahrzehnte, schaffen sich Fertigkeiten drauf, die die Kapitalmaschine am Laufen halten, während sie in der Gegend herumrotieren und herumgeschossen werden, und sind dann wieder weg.

Zurück bleiben: verstreute, in wenigen Jahrzehnten selbst zerfallende oder unlesbar werdende Datenträger mit Milliarden Bildern und Dokumenten, die das Gewese dieser Halbwesen festhalten sollten, aber niemanden je mehr interessieren werden (selbst wenn er sie entschlüsseln könnte). Und zurück bleiben: Schlüssel, Telephone, Tabakbeutel, Kaffeelöffel, Haarspangen und andere Kleinteile, die irgendwann von meinem Küchentisch verschwunden und leider zu spät wieder aufgetaucht sind.

Keine leichte Aufgabe für außerirdische Historiker, diesen Kuddelmuddel zu entschlüsseln. Aber immerhin haben sie was zu tun und müssen nicht gleich wieder „los“.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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