Frisch gepreßt #427: The Beatles „The Beatles (Super Deluxe Edition)“

1968. Ein normaler Beatles-Januar, der sechste: „Hello Goodbye“ führt die UK-Charts an, die Band eröffnet die Zentrale ihres Apple-Konzerns in Marylebone. Zwölf Monate später werden fast alle existierenden Ehen, Partnerschaften und die Band selbst geschieden, gescheitert, geplatzt sein.

Ticker: Im Januar nehmen die Beatles „Lady Madonna“ und Songs für ein Album mit dem Arbeitstitel „Get Back“ auf. Am 16. Februar fliegen John und George nach Indien, um Maharishi Mahesh zu besuchen, Ringo und Paul folgen. Der bärtige Guru schenkt George zum 25. eine Weltkarte aus Plastik.

Derweil wird unter Fanprotesten der Liverpooler Cavern-Club geschlossen.
Ringo kehrt als erster zurück, um mit Elizabeth Taylor und Richard Burton die Premiere von „In 80 Tagen um die Welt“ zu feiern. Paul und Jane Asher folgen 14 Tage später, als „Lady Madonna“ Platz eins erreicht. Am 12. April sind alle wieder in London – enttäuscht vom Guru, der angeblich Mia Farrow begrapscht hat. Am 20. April bittet Apple per Anzeige um Demobänder, um die Einsender zu Millionären zu machen. Tags darauf wird bekannt: Die Beatles haben die Prüfungen der „Akademie für Transzendentale Meditation“ nicht bestanden.

Am 30. Mai beginnen im Abbey-Road-Studio zwei die Aufnahmen für ein unbetiteltes Album mit dem programmatischen Song „Revolution“ (1 und 9). Gast im Studio ist ein neues Gesicht: Yoko Ono. Die Arbeit gestaltet sich schwierig, weil alle vier mit einem Berg Songs ankommen und von Produzent George Martin verlangen, jeder einzelne müsse veröffentlicht werden. Sogar Ringo hat Sachen dabei, von denen es aber nur „This Is Some Friendly“ als „Don’t Pass Me By“ aufs Album schafft.

Erstmals sind Gastmusiker wie Eric Clapton (auf Harrisons „While My Guitar Gently Weeps“) dabei, erstmals singt eine Frau (Yoko Ono auf „The Continuing Story Of Bungalow Bill“), erstmals nehmen alle getrennt voneinander Songs auf, teilweise ohne die anderen zu informieren, in drei Studios gleichzeitig. Anfang August erwischt Ringo Paul dabei, wie er selbst Drums aufnimmt, und erklärt seinen sofortigen Ausstieg.

Das stört die Aufnahmen nicht sonderlich. Ohnehin waren Ringo und George schon Anfang Juni eine Woche ferngeblieben, um in den USA für Ravi Shankars Film „Raga“ vor der Kamera zu stehen. Als die australische BBC am 11. Juni die Aufnahmen filmt, ist nur Paul da und nimmt „Blackbird“ auf. John besucht derweil (erstmals öffentlich mit Yoko) die Theaterbearbeitung seines Buchs „In His Own Write“, George produziert Jackie Lomax. Ende Juni sind fünf Songs einigermaßen fertig.

365 weiße Luftballons verkünden am 1. Juli die Eröffnung der Ausstellung „You Are Here (To Yoko From John Lennon, With Love)“ in Mayfair. John verkauft seinen „psychedelisch“ lackierten Rolls Royce, eine Woche später sein Haus, die BBC sendet erste Ausschnitte aus „Yellow Submarine“. Während die Beatles eine über 27minütige Version von „Helter Skelter“ einspielen, trennt sich Jane Asher per TV von Paul. Eine Woche später schließt die Apple-Boutique und verschenkt ihr Inventar. Paul nützt den leeren Laden, indem er die Titel der nächsten Single aufs Schaufenster schmiert: „Hey Jude“ und „Revolution“. Am 22. August reicht Cynthia Lennon die Scheidung ein. Die bei den Sessions stets anwesende Yoko ist unübersehbar schwanger. Am 30. August erscheint „Hey Jude“, verkauft sich in drei Tagen über eine Million mal und bleibt bis Ende der Aufnahmen auf Platz eins der UK-Charts.

Als Ringo am 5. September wieder ein Beatle wird, findet er sein Schlagzeug mit einem Berg Blumen überschüttet. Erste Session mit Aushilfsproduzent Chris Thomas (George Martin ist in Urlaub): 17 Versionen von „Helter Skelter“. Am 13. Oktober spielt John „Julia“ als 32. und letzten Song ein, der Mix zieht sich noch Tage hin. Währenddessen entsteht gleich noch die Musik zu „Yellow Submarine“.

Am 18. Oktober werden John und Yoko wegen Drogen verhaftet und tags darauf auf Kaution entlassen. Zwei Tage nach der Ankündigung, sein Kind komme im Februar zur Welt, ist John geschieden; am 31. Oktober zieht Linda Eastman mit Tochter bei Paul ein. Im Queen Charlotte’s Hospital, wo John auf dem Boden übernachtet, „produzieren“ Yoko und er „Unfinished Music No.1 – Two Virgins“, das am 11. November erscheint. Zehn Tage später nimmt John die letzten Herztöne seines sterbenden Sohns auf. Kaum jemand kriegt mit, daß Ringo und George eigene Musikverlage gründen.

„The Beatles“ kommt am 22. Oktober 1968 in die Läden, mit 30 Tracks das erste und bis heute DAS klassische Doppelalbum der Popgeschichte. Jetzt: umfaßt es 107 Tracks auf sechs CDs und ist vielleicht das einzige Album, das durch den Deluxe-Wahn keinen Deut weniger grandios wird, sondern eher ein noch trefflicheres Abbild jener wilden, wirren Zeiten bietet (ebenso wie das beigelegte Poster, das gerne Quadratkilometerformat haben dürfte).

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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