Die Kapazitäten des menschlichen Gehirns sind begrenzt. Das wissen wir nicht erst von dem ehemaligen, nunmehr laut Hofberichterstattung (i. e. Wirtschaftsjournalismus) unter Mitnahme einer zweistelligen Millionensumme „gefallenen“ Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff, der neulich mal wieder vor Gericht mußte und dabei die Frage nach seinem Alter erst im dritten Versuch – 53, nein, Jahrgang 53, also … 54 … (Gelächter und Gemurmel im Publikum) … ähem, 58 – richtig beantworten konnte.
Nein, daß in unser Hirn nicht alles hineinpaßt, zumindest nicht ohne querzustehen, anzustoßen oder irgendwas anderes umzustoßen, das erfahren wir meist dann am eindrücklichsten, wenn es um Kunst oder genauer gesagt: um die Frage geht, was Kunst sei, für was sie gut sein soll und ob sie überhaupt „gut“ ist. Zum Beispiel stehen in dem Teich vor der Blutenburg in Obermenzing seit 2005 drei grün bemalte Dinger herum, die „sich aufrichtende Halme“ darstellen sollen (ohne sich in irgendeiner Weise zu bewegen oder gar aufzurichten), von denen auf den ersten – oder überhaupt einen Blick – niemand so recht zu sagen wüßte, was sie da sollen.
Das erklärt uns zum Glück der Künstler, der gelernter Holzbildhauer ist und den Auftrag zur Erstellung der Dinger von der bayerischen Staatsregierung bekam: Ein „markantes Zeichen an der Schnittstelle zwischen Urbanität und historisch ländlicher Infrastruktur“ sei das Ensemble, „das in seiner Fernwirkung die Achse im Durchblickpark zwischen der barocken Schlossanlage Nymphenburg und der mittelalterlichen Blutenburg markiert“. Damit aber bei weitem nicht genug! „Künstlichkeit und Übergröße“ nämlich stünden „hier einerseits für ein Merkmal unserer Zeit, in der die Gentechnik die Grenzen der Natur zu sprengen verspricht. Das Skulpturen-Terzett thematisiert dem entgegen die Beschränktheit und die Fragwürdigkeit menschlichen Strebens nach künstlichem Wachstum.“
„Dem entgegen“ könnte man halten, daß darauf vom bloßen Anblick niemand käme, weder die so tapfer angeprangerte Gentechnikindustrie noch der von ihr bedrohte Normalmensch, der auch nicht ohne weiteres bemerken wird, daß die aus ehemaligen Eichen skulpierten Dinger „aber auch in ihrer Übergröße die Schönheit kleiner und unscheinbarer Grashalme erlebbar“ machen, ja sogar „untereinander korrespondieren“ und – Himmel Arsch! – „im Dialog mit der Architektur der mittelalterlichen Schlossanlage und dem alten Baumbestand an der Würm“ stehen. Man glaubt förmlich zu hören, wie sie plaudern, die alten Baumbestände und die gereckten Monsterhalme: „Jessas, Jungs, schaut nur, was sie aus dem Franz, dem Thilo und dem Heini gemacht haben!“ – „Ja, da staunt ihr, was? Wir tun jetzt nicht mehr nur dumpf vor uns hin baumen, sondern thematisieren, korrespondieren, dialogisieren und erlebbar machen!“
Na gut, sei’s drum, denkt der Normalmensch, nachdem er den erwarteten Abschlußschwurbel („Der Perspektivenwechsel wird insofern visualisiert.“) mental verdaut hat; ist ja nicht so schlimm, und wenn nicht ein offensichtlich kunstsinniges Bleßhuhn auf die Idee gekommen wäre, ausgerechnet unter einer der grünen Säulen seinen diesjährigen Eierhaufen abzulegen, wäre der Schmarrn längst aus der Welt, den Augen und dem Sinn, und wir Banausen könnten uns mit anderem beschäftigen, zum Beispiel mit den Fußballergebnissen oder dem durchaus idyllischen und erfreulichen Anblick der Blutenburg ohne grüne Dinger.
Hirnmäßig besonders sperrig wird Kunst immer dann, wenn sie nicht nur „Themen aufgreift“, sondern so richtig pfundig politisch wirken möchte – dabei fällt in letzter Zeit meistens der lustige Name des auch äußerlich recht lustig wirkenden Chinesen Ai Weiwei, der, so hört man, mit seiner Kunst gehörig provoziere, Tabus breche usw. bla bla bla sowie nebenberuflich die beliebte Tätigkeit eines „Menschenrechtlers“ ausübe und deswegen von seiner Regierung, Verzeihung: dem Regime ganz fürchterlich gepiesackt werde. Seit 3. April sitzt Ai Weiwei in Haft, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht aufgefordert werde, mich für ihn einzusetzen, mit ihm zu solidarisieren, zu protestieren und aufzubegehren, als säße ansonsten auf der ganzen Welt (oder notfalls: in Bayern) niemand im Gefängnis, der nicht hineingehört.
Aber meinetwegen: Hiermit fordere ich die chinesische Regierung auf, Herrn Ai nicht ungerecht zu behandeln und generell niemanden ins Gefängnis zu sperren, der nicht hineingehört. Hört ihr mich, ihr Regierungschinesen?
Vielleicht aber sollte man sich abgesehen von dieser Selbstverständlichkeit dem Wirken des Herrn Ai mal etwas genauer widmen. Dem Politischen, von dem Chinesen, Chinakenner und Chinakritiker meinen, es sei, weil weder konkret noch in irgendeiner Weise hilfreich, sondern „plakativ, leer und nichtssagend“ (so Zhu Ling, Galeristin für chinesische Gegenwartskunst in Berlin), nichts als Reklame für Ai Weiwei selbst – der als Architekt übrigens bei seinen Unterdrückern ein gefragter Mann ist: Er entwarf in deren Auftrag Parks, Museen, Luxusvillen und das Pekinger Olympiastadion. Derartige Projekte sind in China fast immer mit Zwangsenteignung, Vertreibung der Anwohner und rücksichtsloser Ausbeutung von Wanderarbeitern verbunden, von denen es mehr als 200 Millionen gibt, mit denen sich niemand solidarisiert, weil sonst Apple-Spielzeug und Nike-Schuhe teurer werden könnten. Auch nicht Ai Weiwei, der „Regimekritiker“, der seine Regimekritik auf wolkiges Dampfgeplauder beschränkt, das irgendwie für jedes Land der Welt paßt: „Die Regierung, das gesamte System opfert Bildung, Umweltressourcen und die Interessen der meisten Menschen, nur damit einige wenige Menschen mit Verbindung zur Regierung extrem reich werden können.“
Zum Beispiel der „Künstler“ Ai Weiwei, der als solcher in nennenswertem Umfang eigener Aussage zufolge erst seit 1995 tätig ist, 2004 seine erste Einzelausstellung hatte und dank explodierender Preise innerhalb weniger Monate ein derartiges Millionenvermögen anscheffelte, daß der Vorwurf, den ihm die chinesische Justiz macht (Steuerhinterziehung), irgendwie fast plausibel klingt. Und zwar mit Werken, die man eigentlich nicht kritisieren darf (schließlich sind sie „regimekritisch, gelt?), von denen der eine oder andere ehrliche Kritiker trotzdem meint, sie seien „lächerlich, bunt, skandalös schlecht“, neigten „zum billigen Effekt“ und hätten „viel mit PR, aber wenig mit Kunst zu tun“ (Karlheinz Schmid, Herausgeber der „Kunstzeitung“).
Andere Medien sehen das anders, etwa das Hochglanzmagazin „Monopol“: In dessen Internetarchiv finden sich 87 Artikel über Ai Weiwei – zum Vergleich: Picasso wird in 49 Artikeln (meist beiläufig) erwähnt, Francis Bacon bringt es auf 11, Van Gogh auf ganze 7 –, aber nicht ein einziges kritisches Wort. Herausgegeben wird dieses Heftchen von dem in China höchst aktiven Schweizer Medienkonzern Ringier. Dessen Vizepräsident ist der ehemalige Schweizer Botschafter in China, ein gewisser Uli Sigg, Schloßeigentümer, Anhänger des rechtsradikalen Milliardärs Christoph Blocher und Besitzer der weltweit größten Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst.
Sigg lernte Ai Weiwei 1995 in Peking kennen, überredete den Galeristen und Verleger, Künstler zu werden, wurde so was wie sein Manager und „vernetzte“ ihn so effektiv mit mächtigen Kuratoren diverser Biennalen und Documentas, daß er mit seinem pompösen Kitsch ohne Anlauf eine blitzartige Weltkarriere hinlegte – dank einer äußerst verkaufsträchtigen Mixtur aus Pseudo-Regimekritik, Lobbyismus und spektakulärem Aktionsgebimse (etwa um einen vier Tonnen schweren Felsklotz aus China, den er 2010 mit dem Hubschrauber auf den Gipfel des Hohen Dachsteins fliegen ließ, um, na klar: „das Spannungsverhältnis zwischen den Möglichkeiten des Menschen und der Größe der Natur“ zu „thematisieren“).
Das haben wir so ähnlich schon gehört und hegen den begründeten Verdacht, daß Kunst gar nichts anderes tut als irgendein Spannungszeug mit Mensch und Natur thematisieren oder korrespondieren oder aufgreifen oder wie auch immer – und weil unser Hirn aber locker groß genug ist, um zu wissen, daß das banaler Quark und ein arg billiger Vorwand zum Abgreifen von Millionen ist, wünschen wir Ai Weiwei viel Glück und beschäftigen uns lieber mit etwas Interessantem.