Frisch gepreßt #295: Ellen Foley „Night Out/Spirit Of St. Louis“

Lustige Koinzidenz: Gestern nacht versuchte ich einer spät nachgewachsenen Zeitgenossin zu erklären, dass und weshalb The Clash die größte, wenn nicht die einzige (okay, es war spät) Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten waren (und, phänomenologisch betrachtet: sind). Keine paar Stunden später erinnert mich eine Veröffentlichungsanzeige daran, dass sie auch ihre Schwächen hatten, wie sich das gehört, was ihren Kampf gegen die ganze dumme, böse Welt vielleicht noch heroischer macht, aber egal.

Rückblende: Mit sechzehn kannte ich ein Mädchen, war rauschhaft und vermeintlich unsterblich verliebt, stellte indes nach zwei abendlichen Begegnungen (ein Tanz, ein Kuss) fest (wie man heute postet): „Es ist kompliziert.“ Nämlich stand jemand dazwischen, der wegzugehen sich weigerte, da mochte sie Sehnsuchtsblicke wie Photonentorpedos nach mir schleudern, während er ihre Hand klammerte. Die versengten mich nur und machten meine Ratlosigkeit zum Sumpf, in den ich schließlich sank, während sie an ferne Sommerferienorte entschwand oder sich entführen ließ; ich weiß es nicht. „Frisch gepreßt #295: Ellen Foley „Night Out/Spirit Of St. Louis““ weiterlesen

Belästigungen #413: We will burn it and dance in the smoke (ein Sommeridyll)

Am heißesten Tag des Jahres, dem 19. Juni 2013, sitze ich in der Abenddämmerung bei 34 Grad mit lieben Menschen am nördlichen Rand der Münchner Stadt um eine Feuerstelle, die niemand entzünden will, weil es dafür viel zu heiß ist. Am Horizont schmilzt die Sonne wie eine Kugel Vanilleeis in grell orangeroter Rhabarber-Pfirsichsauce.

Unser Gespräch dreht sich im wesentlichen um Pläne für den Sommer: noch mehr lustige, spannende, schöne, hin-, mit- und umreißende Sachen erleben, Bier trinken, Sex haben, Drogen nehmen, geile Musik hören, in kristallperlenden Seen und Flüssen schwimmen, den blauen Himmel überstrahlen und in Gewitterschauern nackt auf der Straße tanzen.

„Ab morgen“, sagt J, dreht ihre Flasche um und läßt den Rest Bier bedeutungsvoll in einem Ameisenloch versickern, „ab morgen werden die Tage wieder kürzer.“ „Belästigungen #413: We will burn it and dance in the smoke (ein Sommeridyll)“ weiterlesen

Belästigungen #412: Vermischte Neuigkeiten zum Dilemma der Körperöffnungen

Daß der menschliche Körper Öffnungen hat, ist an sich eine segensreiche Fügung, das muß man nicht extra betonen: es wäre ein Elend, wenn eine ganze Biergartenbesatzung hungertriefend und durstzerknittert vor Schenke und Auslage stünde und die Schweinshaxen nicht mal riechen könnte, geschweige denn hinunterspülen, weil sich die Evolution den Jux gemacht hätte, Nase, Mund und Restkörper als in sich geschlossenes System zu konzipieren.

Indes will es gelernt sein, mit der Semipermeabilität des eigenen Echtwelt-Avatars umzugehen. Das klassische Beispiel für sozusagen intuitive Souveränität wäre die legendäre Zeitungsmeldung, derzufolge ein blinder Inder (der vielleicht ein Chinese oder Alabamer war, aus poetischen Gründen aber ein Inder sein sollte) sich einst in den Kopf schoß, um seiner elenden Existenz ein Ende mit Hoffnung auf Wiedergeburt als Pandabär oder Milliardär zu bereiten. Leider oder zum Glück führte der Schuß nicht zum Exitus, sondern quasi eine hirnchirurgische Operation durch: Nach kurzer Bewußtlosigkeit erwachte der vormals blinde Suizidant, konnte plötzlich sehen und wurde vollends irrsinnig angesichts einer Welt, die seine schlimmsten Vorstellungen exponentiell übertraf. „Belästigungen #412: Vermischte Neuigkeiten zum Dilemma der Körperöffnungen“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (10)

 
„Du hast sie doch gesehen? Wie weit war sie weg?“
„Ein paar Meter.“
„Okay, du hast gespielt.“
„Wie: gespielt?“
„Männer.“
„Du hast nichts gesehen, weil du so damit beschäftigt warst, ihr vorzuspielen, daß du sie nicht siehst. Wenn du sie gesehen, also: richtig angeschaut hättest, hätte sie bemerkt, daß du sie bemerkt hast und siehst. Dann hätte sie dir nicht geglaubt, daß dich dein ‚neues Leben‘ so erfüllt, daß du sie gar nicht mehr erkennst.“
„Männer, Männer, Männer.“
„Und jetzt meinst du, sie wird eifersüchtig, weil dir dein ‚neues Leben‘ so viel mehr bedeutet als sie.“
„Ich weiß nicht.“
„Du weißt heute aber nicht viel.“

Frisch gepreßt #293: Bullfrog (s/t)

Manche Sachen verschwinden im Strudel der Zeiten so vollständig, daß, wenn sie plötzlich wieder auftauchen, man sich verblüfft fragt, wo sie die ganzen 35 Jahre waren. Wie diese Band, diese phantastische Band, die wir damals im Theatron … Nein, da holen wir jetzt weiter aus.

Was das für ein Sommer war, ab Mai: dreißig Grad, Geschichtsstunde über den Vietnamkrieg, der gerade ein Jahr her ist; Diskussionen über Atomkraftwerke, fremde Planeten, rätselhafte Mädchen und die Fußball-EM – ganz Giesing hallt nachts von den entsetzten Schreien über Hoeneß’ verschossenen Elfmeter; nach den Pfingstferien hitzefrei bis Ende Juli, jeden Tag. 99 Pfennig für einen Liter Eis im verlassenen Schulhof, ein Bier in der schwülen Dämmerung, leichter Schwindel beim Fußballspielen, wie schwebend; lachen bis die Sonne untergeht, fast Mitternacht, plötzlich Stille zum Flüstern, paar Pfützen um den Wasserhahn im Pfarrgarten, mit gelben Rändern vom Blütenstaub; oder ist das Wüstensand, wie die Bildzeitung mit rotem Kopf meldet? „Frisch gepreßt #293: Bullfrog (s/t)“ weiterlesen

Periphere Notate (5): Kontennui

Das neue Leben, das A. begonnen hatte, begann sich nach drei Wochen wie das alte anzufühlen. Erstaunt überprüfte A. seine Kontoauszüge, stellte fest, daß tatsächlich auch seine Daueraufträge weiterliefen, und beschloß, das Gefühl daran festzumachen. So, dachte er, blieb immerhin etwas, wenn auch wenig.

Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen

Eine Freundin, der ich neulich einen großen Berg der hier veröffentlichten Kolumnen übergab, damit sie sie vor der Neuauflage als Sammelbuch auf Relevanz und Zumutbarkeit prüfe, meinte hinterher, ich sei ja ein ganz schöner Choleriker, wenn ich mich immer so aufrege, und so kenne sie mich gar nicht.

Das, meinte ich, mich höchstens milde aufregend, könne überhaupt nicht sein, schließlich werde der Choleriker im allgemeinen als willensstark und entschlossen beschrieben – vgl. etwa einen durchschnittlichen BWL-Börsennazi –, was auf mich nur in den seltensten Fällen halbwegs zutreffe. Dann, sagte sie nach einigem Wälzen im inneren Lexikon der Küchenpsychologie, handle es sich wohl um hyperaktive Melancholie mit einem Zug ins Depressive; andererseits kenne sie mich auch als notorisch exzessiven Sanguiniker an der Grenze zum pathologisch-hysterischem Übermut mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und mein Phlegma sei durch den Zustand meines Schreibtischs und den mangelnden Schnitt meiner Rosenstöcke und Obstbäume ausreichend belegt. „Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (9)

Während er die Badewanne vollaufen ließ, läutete es an der Tür, und im selben Moment wußte er, daß er genau das erwartet hatte.

„Du läufst aus dem Ruder“, sagte das Mädchen. Ihr Blick wirkte wachsam, als rechnete sie mit einem plötzlichen Ausbruch unkontrollierter Aggression.

„Schau nicht so, ich bin nicht krank. Nur verwirrt.“

„Das eine kommt manchmal vom anderen.“

„Oder umgekehrt“, sagte Einfreund und trat einen Schritt zur Seite, wodurch ihn der Türrahmen verbarg, „okay, Binse.“

„Gemütlicher Abend im Bademantel?“ sagte das Mädchen. „Hast du einen zweiten?“ „Beim Schreiben eines Romans (9)“ weiterlesen

Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?

Tolle Frage: Da steht der 14jährige, sprachlos, weil er gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Aber das Problem ist bekannt: Wer als Bams zum ersten Mal in einen Kaugummi beißt, hat für den plötzlich aufquellenden Süßrausch aus Aromasensationen zum Vergleich nur Milch, Brei, vielleicht noch Breze und schlimmstenfalls Gelbwurst. Da ringelt er sich vor Entzücken und manscht in dem zähen Kautschukknödel herum, nicht achtend der Welt, die sich recht übersichtlich gestaltet: hier Mama, da Papa, dort ein undurchsichtiges Wallen, aus dem bisweilen ein Phänomen hervorspitzt, das man sich in den Mund schieben und feststellen kann, daß es meistens nicht schmeckt (Regenwurm, Batterie, Badeente, Gelbwurst).

Wer sich den tausendsten Kaugummi in den Mund schiebt, tut das aus anderen Gründen. Weil er sich gerade einen Döner hineingepreßt hat und in zehn Minuten im großen Meeting mit seiner World-Advance-Strategy überzeugen oder andernfalls Hartz IV beantragen muß. Weil die angeheiratete Immobilienbesitzerstochter die der zeitweise aufgehobenen Sinnlosigkeit des Rödelns entsprungene Mittagsbierfahne nicht bemerken soll. „Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (8)

 
„Ach so, Liebe heißt für dich Verantwortung.“
„Was denn sonst?“
„Was sonst? Wie wär’s mit Liebe? Sonst könnte man gleich sagen: Wir haben eine Verantwortungsbeziehung. Romeo verantwortet Julia.“
„Ha ha.“
„Genau. Lächerlich.“
„Der Witz. Verantwortung ist nicht lächerlich.“
„Und was bedeutet das, Verantwortung?“
„Daß man sich umeinander kümmert.“
„Wenn man alt und krank wird und so was.“
„Ja. Das ist nicht zum Lachen. Man wird ja wirklich alt und krank.“
„Yeah, und dein Orgasmus ist so richtig geil, wenn du dir vorstellst, daß sie dir in vierzig Jahren den Hintern putzt und die Windel wechselt.“

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Periphere Notate (3): Sieht aus wie Regen

Sitzt da, die Arme aufgestützt, wirft einen Schatten auf ihre Hände, die den Kopf halten. Eine dunkle Konstruktion, dunkler noch als der Rest, die Luft, die schwer über uns hängt, um uns, irgendwie dunkel grün, auch der Tag.

Sagt nichts, aber ich sehe etwas Helles, denke mir den Rest dazu und weiß, daß es ein Lächeln ist.

Liegt dann wieder im Bett und spricht zu mir, macht die schwere Luft vibrieren, die dunkle Luft, feucht und grün irgendwie. Spricht mit einer Stimme, die feucht und dunkel klingt. Von unten kommt, tiefer als sie, tiefer als wir.

Sitzt wieder am Tisch, sieht an mir vorbei, sieht gar nirgends hin. Sieht nichts. Falsch, nichts erreicht meine Augen, sagt sie, denn sehen kann man nicht bewußt, es muß etwas hineingeraten. „Periphere Notate (3): Sieht aus wie Regen“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (7)

Er erinnerte sich an die Beerdigung an einem Dienstag im frühen Februar, zu der sie mit dem Zug nach Hannover gefahren waren, frühmorgens. Lisa war noch betrunken, er schwer verkatert; fünf Stunden lang betrachteten sie schweigend einen bleischwarzen Todeshimmel, der sich langsam achatartig graubraun färbte und ihnen zu folgen schien; dann waren sie zu viert (Vater, Mutter, Tochter, Schwiegersohn – der Rest der Verwandtschaft hatte sich nicht von seinen beruflichen Verpflichtungen befreien können) im winterlichen Sturmwind am Grab gestanden, hatten schweigend zugeschaut, wie der Sarg in der Grube verschwand. „Beim Schreiben eines Romans (7)“ weiterlesen

Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?

Moralapostel mag niemand gerne (und keine Angst, ich werde in den folgenden Zeilen ganz bestimmt keinen solchen geben). Denen ruft man ein gehässiges „Mäh! Mäh! Mäh!“ entgegen und schaut vergnügt zu, wie sie geteert und gefedert auf einer Eisenbahnschiene aus dem Dorf getragen werden. Mit einer Ausnahme: Wenn die Zeigefingerburschen einer Gesellschaftsschicht, oder sagen wir ruhig: Klasse entstammen, die man von Haus aus für eine schmierig schillernde Bande von Schwerverbrechern hält und für ihre maßlose Gier, Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit insgeheim bewundert („Hund’ sans scho!“), dann zieht man den Hut, wenn sie mal was annähernd Vernünftiges sagen.

So brachte es der Wurstfabrikant, Börsenspekulant und Vereinspräsident Ulrich Hoeneß zu einigem Ansehen, weil er neben einem Haufen Blödsinn immer mal wieder Sachen sagte, von denen wir alle wissen, daß sie richtig sind, die sich aber sonst keiner sagen traut, weil es sonst schlagartig aus ist mit der Medienkarriere und den Talkshowhonoraren. Deutsche Medien brauchen Durchhalteparolen, neoliberale Propaganda, Unterschichtbeschimpfung und Leistungsgefasel; etwas anderes wird weder gedruckt noch gesendet, und wenn doch, dann nur umgeben von solchem, das dann immer in der Mehrheit sein, hochamtlich tönen und die jeweilige Frau Wagenknecht niederbrüllen muß. „Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?“ weiterlesen

Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City“

Der Plan war: Eindringlich, poetisch und unwiderlegbar darlegen, weshalb es, wenn der verschneite Frühling in einen verregneten, verwehten, verstürmten, vergrauten und verwolkten überschmilzt, in dem Schwester Sonne nur bei Kurzauftritten trotzig-traurig bläut, weshalb es da für pathologische Romantiker mit gebrochenem Sinn gar nicht genug Lotte-Kestner-Alben geben kann, um das Seelenblut zu stillen und den brachen Geist in weiche Tücher zu hüllen, damit er schlafen möge und träumen von anderen Welten und Zeiten. Weshalb es deswegen so schön ist, daß einen Monat nach dem letzten heute schon wieder ein neues Lotte-Kestner-Album erscheint …

Aber es geht nicht, weil ein solcher Krach die Wohnung füllt. Wo kommt der plötzlich her? „Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City““ weiterlesen