Im Regal: Airen „Strobo“ & „I Am Airen Man“

 

In Martin Amis’ Roman „The Information“ hat ein Schriftsteller die skurrile Idee, die Geschichte der Literatur als eine „der fortschreitenden Erniedrigung“zu betrachten: Mit dem sozialen/moralischen Abstieg der Romanfiguren (von Göttern über gestürzte Könige und besiegte Helden bis hin zum „Abschaum“) würden auch deren Verrichtungen („Plots“) banaler und nichtiger; gleichzeitig schreite die Kosmologie unaufhaltsam fort, vertreibe den Menschen aus dem Zentrum der Welt und lasse alles immer größer erscheinen (von Homers Bronzehimmel bis hin zur Unendlichkeit multipler Universen). Nötig sei folglich eine Verkleinerung, hin zum „Universum des bloßen Auges“. „Im Regal: Airen „Strobo“ & „I Am Airen Man““ weiterlesen

Im Regal: Christian Kracht „New Wave. Ein Kompendium 1999-2006

Darf man einen Menschen, den man nicht kennt, mit dem man nie ein Wort gesprochen, von dem man nur ein paar Texte gelesen hat, die ganz bestimmt und hoffentlich nicht zu seinen besten zählen, – darf man so jemanden einfach als dumm bezeichnen? Ich tue das jetzt mal: Ich halte Christian Kracht für einen furchtbar dummen Menschen. Einen, der in der Welt herumflitzt wie ein verbogener Brummkreisel, aber nirgends etwas erfährt. Einen, der wahrscheinlich wahnsinnig viele coole Bücher gelesen (oder durchgeblättert) hat, die er gerne selber geschrieben hätte (was er deshalb in einigen Fällen auch versucht). Einen, der sich für die schönste, klügste, wichtigste und individuellste Individualperson an jedem beliebigen Ort und überall hält und sich dabei in eine Aura von Ennui-Melancholie zu hüllen sucht wie in einen mannsgroßen Luftballon. Einen, der schreibt, als putzte und feilte er (die Augenbrauen knapp unter dem Scheitel, die Mundwinkel knapp über dem „Im Regal: Christian Kracht „New Wave. Ein Kompendium 1999-2006“ weiterlesen

Vom Heroismus der Idiotie

Das „Zentrum für politische Schönheit“ dürfte es in den nächsten Monaten nicht leicht haben. Wenn die Künstlergruppe, die mit einigen spektakulären Aktionen tote Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen instrumentalisierte, um medial auf sich aufmerksam zu machen, künftig als reaktionäre Klamauktruppe gilt, verdankt sie dies ihrem Gründer und Boß Philipp Ruch und seinem als „politisches Manifest“ etikettierten Pamphlet Wenn nicht wir, wer dann?.

Einer der grundlegenden Denkfehler des Machwerks mit dem abgegriffenen Phrasentitel (Vorlage: Andreas Veiels Enßlin-Vesper-Baader-Film „Wer wenn nicht wir“) steht schon im Titel und in der Überschrift des Rückentextes: „Vom Heroismus der Idiotie“ weiterlesen

Im Regal: Hanna Lemke „Gesichertes“ (eine exemplarische Kritik der Institutsliteratur)

Man meint, jüngeren Lesern das schon erklären zu müssen: daß vor einem guten Jahrzehnt einmal eine „Literatur“ in Deutschland mehr aufpilzte als -blühte, die in „Instituten“ gelehrt wurde, nachdem sie Kulturhampelmänner wie Hellmuth Karasek zum „Sound einer Generation“ erhoben hatten, die aber kaum mehr als der verspätete Neuaufguß des „Sounds“ von Raymond Carver war, oder sagen wir: dessen, was sein Lektor Gordon Lish daraus zusammenmontiert hatte und was nun die „Lakonie“ zu einem fast ebenso häufig in der Gegend herumgeworfenen Modewort machte wie ein Jahrhundert zuvor die Hysterie. „Im Regal: Hanna Lemke „Gesichertes“ (eine exemplarische Kritik der Institutsliteratur)“ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) Bestsellende Groschenhefte

Die Süddeutsche Zeitung fand es letzten Herbst vermeldenswert, die mittlerweile inflationär in den Illustrierten wuchernden Bestsellerlisten hätten „offenbar nicht, wie sich die Verlage erhoffen, auch noch zusätzliche werbende Wirkung“. Laut einer Umfrage nämlich seien derartige Buch-Hitparaden „nur für 27 Prozent der Deutschen eine wichtige Orientierungshilfe“. „(Aus dem tiefen Archiv:) Bestsellende Groschenhefte“ weiterlesen

Im Regal: Umberto Eco „Nullnummer“

Seit „Der Name der Rose“ besetzt der ehemals als Semiotiker tätige Umberto Eco romanweise mit höchstem Erfolg ein Genre, das er selbst begründet hat: die Verbindung von Abenteuer- und Kriminalgeschichten mit historischen Tatsachen, Mythen, Textauslegungen/Zitaten und Verschwörungstheorien, die er allesamt so wild durcheinandermischt, daß daraus inzwischen weit über die Literatur hinaus eine Lieblingsbeschäftigung „postmoderner“ Weltdeuter geworden ist.

Das Rezept bleibt im wesentlichen gleich; der Reiz der Geschichten ist durchaus unterschiedlich und hängt davon ab, wie plausibel der weithin, aber nicht immer tief belesene Autor die Einzelstücke zusammenschraubt – und ob er es hinkriegt, seinen Hang zur Gschaftelhuberei und zum Protzen als Hansdampf in allen Infogassen zugunsten einer wenigstens einigermaßen interessanten Rahmenhandlung und mindestens ungefähr erkennbaren Protagonisten zu zähmen. „Im Regal: Umberto Eco „Nullnummer““ weiterlesen

Im Regal: Mark Twain „Meine geheime Autobiographie“

Eine Kindheit und Jugend ohne Mark Twain ist (nicht nur) für meine Generation unvorstellbar. Der „Wilde Westen“, Hintergrund so gut wie sämtlicher Rollenspiele und Tagträume, wäre ein in jeder Hinsicht schwarz-weißes, von blutleeren bis faschistoiden sozialstrukturellen Vorgaben geprägtes Terrain geblieben ohne jene zwei Ewigkeitsbücher, deren das erste und sowieso alles andere Verfügbare weit überragendes zweites mit dem so typisch ironisch verknäuelten Satz anhob: „Ihr könnt nichts von mir wissen, wenn ihr nicht das Buch über Tom Sawyer gelesen habt, aber das hat weiter nichts zu besagen.“ Ein solcher Satz bleibt hängen; der dreht sich wie ein Korkenzieher hinein in ein jugendliches Gemüt, das bald selbst kaum anderes mehr will als das: schreiben, Geschichten erfinden, Bücher machen, und wenn’s nur selbstgeheftete Broschüren mit blumigen Titeln ohne Inhalt sind. „Im Regal: Mark Twain „Meine geheime Autobiographie““ weiterlesen

Im Regal: Ursula Krechel „Landgericht“

Es gibt einen Typus Buch, der in den meisten Haushalten ehemals geisteswissenschaftlich Studierender vegetiert: das sogenannte „Mängelexemplar“, das (außer Stempel bzw. Strich) nur den Mangel hat, daß es im angebotsrelevanten Zeitraum niemand lesen wollte; aus einer Ramschkiste geborgen, weil fabrikneu und schade und man sich doch für alles interessieren muß, gerne mal von Luchterhand o. ä., den Verlagen eben, die damals alles Deutsche druckten, was spröde, trocken, vermutlich „anspruchsvoll“ und unverkäuflich war. Alle paar Jahre zieht man es beim Abstauben aus dem Regal, liest eine beliebige Seite, findet sie indifferent bis unzugänglich und stellt’s zurück (vielleicht ist man in ein paar Jahren „aufgeschlossener“, und neu und schade ist es ja irgendwie noch immer). „Im Regal: Ursula Krechel „Landgericht““ weiterlesen

Im Regal: Antonio dal Masetto „Als wär’s ein fremdes Land“

Die Gegenwart, schrieb Vladimir Nabokov einst, sei nur die Spitze der Vergangenheit, und eine Zukunft existiere nicht. Merkwürdig, daß sich der Mensch seiner Vergangenheit oft erst entsinnt, wenn die Zukunftserwartungen rein statistisch auf unberechenbare Tagen, Wochen, Stunden zusammengeschrumpft sind – aber irgendwie auch logisch, schließlich soll das Leben immer irgendwann besser werden, angeblich, und die Erkenntnis, wie gut es einmal war, daß es überhaupt war und nicht sein wird, gilt modernen Vorwärtsstrebern als verdächtig-nostalgische Verweigerungshaltung.

Mit achtzig spielt das keine Rolle mehr, da ist es Zeit, sich zu erinnern, und Agata, gerade achtzig geworden, beschließt, mehr zu tun als nur daran zu denken, was war: „Ich fahre nach Italien.“ Von dort, aus der Kleinstadt Tarni, ist sie vierzig Jahre zuvor mit ihrem Mann Mario und den Kindern Elsa und Guido nach Argentinien ausgewandert; jetzt will sie die verlorene Heimat zumindest wiedersehen, mit diffusem (oder ohne) Ziel. „Im Regal: Antonio dal Masetto „Als wär’s ein fremdes Land““ weiterlesen

Im Regal: Aleister Crowley „Gilles de Rais. The Banned Lecture“

„Picasso des Okkulten“, „verruchtester Mann des Jahrhunderts“, „verderbtester Mann der Welt“ … die Liste der Werbesprüche, mit denen auf Aleister Crowley aufmerksam und mal wieder ein Produkt mit seiner auratischen Reizwirkung verkäuflich gemacht werden soll, ist schon deshalb so lang und absurd, weil ein „Ruch“ (d. h.: „umlaufendes Gerede“) ja meistens genau darin besteht, daß jemand jemanden als verrucht bezeichnet, wodurch er somit noch verruchter wird usw. – ein kulturbetriebliches Perpetuum mobile, das seit dem Esoterikwahn der 80er regelrecht ins Rasen geraten ist, sich aber halt leider immer nur im Kreis dreht um ein Zentrum, das niemand genau erkennt und das vielleicht leer ist. „Im Regal: Aleister Crowley „Gilles de Rais. The Banned Lecture““ weiterlesen

Im Regal: Richard Powers „Orfeo“

Was heutzutage auf und über Bücher geschrieben wird, könnte man als Schaumstoff bezeichnen: Es isoliert, erzeugt ein ungesundes Klima und verströmt giftige Dämpfe. Zum Beispiel: „Richard Powers stellt sich als Erzähler den großen Themen unserer Gegenwart: sei es der Kunst der Technik, der Musik der Gene oder dem großen Netz, das uns alle verbindet und alles verschlingt.“ Das ist kompletter Bullshit, und selbst wenn man es versuchsweise in eine Art Sprache übersetzt, bleibt davon, was dieses Buch betrifft, nur ein Wort, das Sinn ergibt: Musik. Allerdings nicht „die Musik der großen Fragen“ (wie ein Rezensent meint, der offenbar noch verblödeter ist als der Klappentextschreiber), sondern schlicht: Musik. „Im Regal: Richard Powers „Orfeo““ weiterlesen

Im Regal: Mark Vonnegut „Eden Express – Die Geschichte meines Wahnsinns“

Im Bücherschrank meiner Gartenhütte steht ein weitgehend vergessener Klassiker: John Seymours „Großes Buch vom Leben auf dem Lande – ein Handbuch für Realisten und Träumer“, von dem sich hierzulande eine Generation mittelschichtiger Nazikinder anregen ließ, Landkommunen zu gründen und abseits der kapitalistisch-konsumistischen Tretmühle ein erfülltes Leben samt Selbstversorgung von der eigenen Scholle zu suchen. Letztlich gediehen indes zumeist nur das Haupthaar und diverse Neurosen und Konflikte, und so verlegten sich vermeintliche Realisten wie Träumer darauf, lieber „grüne“ Parteien zu gründen, sich mittels idiotischer Sprachschöpfungen wie „grünes Wachstum“ und „erneuerbare Energien“ mit der ehedem verhaßten Tretmühle zu versöhnen und ihren reibungslosen Weiterlauf selbst zu organisieren. „Im Regal: Mark Vonnegut „Eden Express – Die Geschichte meines Wahnsinns““ weiterlesen

Im Regal: Jonathan Coe „Liebesgrüße aus Brüssel“

Es ist zweifellos eines der seltsamsten Gebäude, die auf dieser Welt herumstehen: das Atomium in Brüssel, zur ersten Nachkriegsweltausstellung 1958 errichtet als alles überragendes Symbol für die alles überragende Bedeutung der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“, die als ideologischer Überbau und Popanz für die totale Technisierung irdischen Lebens herhalten mußte.

Aus heutiger Sicht bietet diese krause Veranstaltung das halkyonische Bild einer putzigen Idylle im „Kalten“ Krieg während der sogenannten „Tauwetterperiode“. Mit dem Zweiten Weltkrieg im Rücken und einer suizidal anmutenden Begeisterung für atomare Vernichtung (aus Motiven, die sich heute weder erklären noch nachvollziehen lassen) als Dauergrusel im Hinterkopf mag es verständlich wirken, daß man die wirre, lebensgefährliche Gegenwart und den mörderischen Abgrund der jüngeren Vergangenheit lieber ausblendete und sich euphorisch dem rückhaltlosen Zukunftswahn ergab, der heute noch als Echo aus jedem Politikergequassel herausschallt. Den Wettkampf der Massentötungstechnologien zum Mühen um das Wohl der Menschheit umzudeuten, war freilich reiner Irrwitz, aber zumindest psychologisch möglicherweise erklärbar. „Im Regal: Jonathan Coe „Liebesgrüße aus Brüssel““ weiterlesen

Im Regal: Gabriele Goettle „Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems“

Das Sozialsystem (nicht nur, aber tatsächlich ganz besonders) unseres Landes ist ein Tummelplatz für Idioten: nützliche Idioten wie Politiker, Ärzte und Funktionäre, die in ihrer kollektiven Verblödung den Befehlen und Verlockungen einer wahnsinnig gewordenen Lobbymafia verfallen, und zynische Idioten, die angesichts der unfaßbaren, mörderischen Zustände und Vorgänge die Arme verschränken – ja nun! So ist er eben, der Kapitalismus, gelt? – und mit arrogantem Balkongrinsen auf die theoretische Bibliothek verweisen, der das alles doch seit Jahrzehnten, Jahrhunderten zu entnehmen sei; q. e. d. Damit solle man sich halt mal beschäftigen, dann werde man das schon kapieren, und ändern könne man das nur, wenn man grundsätzlich alles ändere.

Es geht im Sozial- und Gesundheitssystem aber nicht darum, irgend etwas herzuleiten, abzuleiten, zu durchdringen und dozieren zu können; sondern es geht wenigstens vordringlich darum, in frustrierender Sisyphos-Ameisenarbeit den politisch gewollten oder zumindest in Kauf genommenen Beschiß und (so übertrieben das klingen mag) Massenmord zu bremsen, der seit den „Reformen“ der Schröder/Fischer-Bande ein Ausmaß angenommen hat, das jedem, der davon in Einzelheiten erfährt, die Haare zu Berge stehen läßt. „Im Regal: Gabriele Goettle „Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems““ weiterlesen

Im Regal: Raffael Chirbes „Am Ufer“ (2014)

Wenn es ein Symbol der sogenannten „Krise“ gibt, die in Südeuropa wie ein sozialer Tornado wütet und ja vielleicht – wenn man den Menschen und somit auch den von ihm entfesselten kapitalistischen Prozeß von Wachstum und Vernichtung zur Natur rechnet – tatsächlich die „Naturkatastrophe“ ist, als die sie beschämte Apologeten erscheinen lassen möchten, dann sind das die Betonskelette ungeborener Häuser, die seit Jahrzehnten in zunehmender Dichte die Küsten des Mittelmeers säumen. Auch auf dem Titel dieses Buchs ist ein solches sinnloses Monstrum zu sehen, hingestellt in der Hoffnung auf Geld und unfertig stehengelassen, nachdem das Geld dorthin verschafft war, wo es hingehört.

Spanien, wir wissen es, ist ein Hauptlabor der „Krise“, wo fast niemand mehr arbeitet und die wenigsten noch etwas haben (die dafür um so mehr), wo man klagt und leidet, protestiert und mit immer brutaleren Mitteln weiterhin Geld zu Geld umverteilt. „Im Regal: Raffael Chirbes „Am Ufer“ (2014)“ weiterlesen