Im Regal: Richard Powers „Orfeo“

Was heutzutage auf und über Bücher geschrieben wird, könnte man als Schaumstoff bezeichnen: Es isoliert, erzeugt ein ungesundes Klima und verströmt giftige Dämpfe. Zum Beispiel: „Richard Powers stellt sich als Erzähler den großen Themen unserer Gegenwart: sei es der Kunst der Technik, der Musik der Gene oder dem großen Netz, das uns alle verbindet und alles verschlingt.“ Das ist kompletter Bullshit, und selbst wenn man es versuchsweise in eine Art Sprache übersetzt, bleibt davon, was dieses Buch betrifft, nur ein Wort, das Sinn ergibt: Musik. Allerdings nicht „die Musik der großen Fragen“ (wie ein Rezensent meint, der offenbar noch verblödeter ist als der Klappentextschreiber), sondern schlicht: Musik.

Über Musik zu schreiben, ist leicht, aber auch problematisch, denn der Zaubertrick, ein Musikstück per Sprache im inneren Ohr des Lesers erstehen zu lassen, gelingt nur in den allerseltensten Fällen; der Rest, der täglich die Feuilletons füllt, ist ebenfalls: Schaumstoff. Aber fangen wir mal so an: Richard Powers erzählt von einem alternden Komponisten, der durch „tote Flecken“ im Gehirn langsam seiner musikalischen Fähigkeiten verlustig geht und daher auf die „Idee der Biokomposition“ verfällt. „Hirnwellen, Hautleitung und Herzschläge: alles konnte überraschende Melodien hervorbringen. Streichquartette spielen die Abfolge der Aminosäuren in Pferde-Hämoglobin vor.“ Als Chemiker und Hobbygenetiker faßt Peter Els folglich einen künstlerischen Plan, der reichlich verstiegen klingt und ist, aber das macht ja den Reiz von Science Fiction aus, solange die Sache in sich plausibel bleibt. Um das zu erreichen, fährt Richard Powers allerdings ein derartiges Gebirge von Mystifizierung, wilden Assoziationen, Pathos, Fachbegriffen und sich selbst immer wieder zu überbieten trachtenden Übertreibungen auf („Mit jeder Bewegung schleuderte er Millionen von Bakterien, Pilzen, Protozoen, Mikroalgen, Aktinomyzeten, Nematoden und mikroskopisch kleine Arthropoden durch die Luft – Milliarden von Einzellern, von denen jeder zehntausende von Proteinen versprühte. Auch dies ein Sturzbach von chemischen Signalen, unvorstellbaren Tonkombinationen, ein ohrenbetäubendes Feuerwerk für jeden, der sich die Mühe machte, es wahrzunehmen“), daß irgendwann auch der geduldigste Leser auf den Griff zum Lexikon verzichtet, einfach weiterblättert und sich nicht mehr recht einlassen mag auf die Grundbehauptung: „Irgendwo in den Milliarden von Basenpaaren dieser Millionen von Arten mußten Lieder verschlüsselt sein, Sequenzen, die sich an all das wandten, was ihm je zugestoßen war.“ Ob sie das wirklich „mußten“ und wie diese „Wendung“ begründet sein mag, sei dahingestellt – Els jedenfalls möchte die „Lieder“ in DNS umsetzen und einem Bakterium „einpflanzen“, um sie für alle Zeiten zu bewahren: „Verschlüßle eine Komposition in einem quaternären Strang und lege das Band anschließend in den Player.“

Uff. Aus solchem Quark, könnte man zusammenfassend und durchaus beispielhaft feststellen, entstehen durch pfundige Aufschäumung (literarisch und medial) unweigerlich „große Themen“ und „große Fragen“, die „unsere“ tatsächlich großen Probleme (Armut, Krieg, das Ende des Kapitalismus etc.) locker in den Schatten stellen, weil sie in ihrer unfaßbaren Verquastheit nun mal so spannend und interessant schillern. Wenn es Richard Powers darum gegangen ist, dies per Parodie aufzuzeigen, ist sein Roman, wenn auch anstrengend, zweifellos gelungen.

Das ist jedoch fraglich, es könnte auch ernst gemeint sein. Die Geschichte weist gewisse Ähnlichkeiten mit der des „Biokünstlers“ Steve Kurtz auf, der 2004 durch einen Notruf nach dem Tod seiner Frau ins Visier des FBI geriet, das aufgrund von in seinem Haus gefundenen (harmlosen) Bakterienkulturen „Bioterrorismus“ vermutete. Bei Peter Els ist es der Hund, der stirbt, und die Homeland Security, die wegen seines Labors einen ähnlichen Verdacht hegt. Els flieht vor der vermuteten Bedrohung, irrt in der Folgezeit relativ ziel- und motivationslos durchs Land, während der Erzähler von seinem Leben berichtet, von seiner ersten Liebe Clara, die ihn zum Musikstudium bringt und recht abrupt sitzenläßt, von seiner musikalischen Entwicklung im Zeitalter der Avantgarden, der Ehe mit einer Sängerin, die sich für eine bürgerliche Karriere als Lehrerin entscheidet und ihn mit Tochter Sara verläßt, von der spektakulär-skandalösen Zusammenarbeit mit dem Schaumschläger und Dramaturgen Richard Bonner, der Els’ Hauptwerk entspringt. Die Arbeit an und die Aufführung der chaotischen Multimediaoper „Der Strick des Voglers“ über das Täuferreich von Münster, das 1535 mit einem Blutbad endete, fällt indes mit der Belagerung und Erstürmung der Davidianersekte in Waco zusammen, was die Sache sensationalisiert, Els aber so ernüchtert, daß er seine Karriere als Komponist abbricht.

Viele der Episoden, die Powers ineinanderschachtelt, lohnten zweifellos das Erzählen. Das Buch als solches leidet jedoch an dem unterschwellig spürbaren Versuch, all das in seiner Gesamtheit mit bedrohlicher „Bedeutung“ zu schwängern, und der schieren Masse der pompösen und gleichzeitig hilflosen Beschreibung von Musik. Eine herausstechende und charakteristische Ausnahme ist die mitreißende und anrührende Geschichte der Entstehung von Oliver Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ im Görlitzer Kriegsgefangenenlager 1941: Hier, wiewohl an der Grenze zum Kitsch, erwacht die Musik (die es in diesem Fall ja auch wirklich gibt) tatsächlich zum Leben, nicht zuletzt allerdings dank Rebecca Rischins Buch „For The End Of Time“, auf das Powers ausgiebig zurückgreift.

Vielleicht läßt sich das Problem so zusammenfassen: Der Leser fragt sich 492 Seiten lang, was ihm der Autor eigentlich sagen will – was nicht weiter schlimm wäre, wenn man nicht beständig das Gefühl hätte, er wollte einem etwas ungeheuer Wichtiges und zugleich monströs Banales sagen –, kämpft sich derweil durch Meere von Schaumstoff und bekommt schließlich ein reichlich banales, Butch-Cassidy-&-Sundance-Kid-mäßiges Finale hingeknallt, das aus dem Ganzen die Luft rausläßt wie aus einem Gummiballon. Freilich ist Belletristik im besten Falle ein Zaubertrick, aber ein bißchen mehr Zauber und weniger Schwurbel zu „großen Fragen“ und „großen Themen“ möcht’s dann schon sein. Dann hätten sich hieraus sicherlich vier oder fünf ganz hübsche Romane machen lassen.

geschrieben Ende Oktober 2014 für KONKRET

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen