Im Regal: Raffael Chirbes „Am Ufer“ (2014)

Wenn es ein Symbol der sogenannten „Krise“ gibt, die in Südeuropa wie ein sozialer Tornado wütet und ja vielleicht – wenn man den Menschen und somit auch den von ihm entfesselten kapitalistischen Prozeß von Wachstum und Vernichtung zur Natur rechnet – tatsächlich die „Naturkatastrophe“ ist, als die sie beschämte Apologeten erscheinen lassen möchten, dann sind das die Betonskelette ungeborener Häuser, die seit Jahrzehnten in zunehmender Dichte die Küsten des Mittelmeers säumen. Auch auf dem Titel dieses Buchs ist ein solches sinnloses Monstrum zu sehen, hingestellt in der Hoffnung auf Geld und unfertig stehengelassen, nachdem das Geld dorthin verschafft war, wo es hingehört.

Spanien, wir wissen es, ist ein Hauptlabor der „Krise“, wo fast niemand mehr arbeitet und die wenigsten noch etwas haben (die dafür um so mehr), wo man klagt und leidet, protestiert und mit immer brutaleren Mitteln weiterhin Geld zu Geld umverteilt. Davon erzählt Rafael Chirbes: von der Abwicklung des Lebens der nicht mehr Brauch- und Auspumpbaren, aber auch der Kleinprofiteure, denen – allesamt infiziert vom neoliberalen Bazillus mit sämtlichen Symptomen (Gier, Egoismus, quasireligiöse Verblendung, Zynismus) – am Ende nichts bleibt als die Einsicht, keine Seele zu haben: „Jetzt müssen wir das Leben leben, das nach dem Leben kommt“, auf diese oder jene, endgültige Weise.

„Am Ufer“ ist weniger Kunst- als Bergwerk; ein Roman von überbordender Wortgewalt, der den Leser regelrecht überflutet mit Empfindungen, Einschätzungen und Erinnerungen; ein Buch, das offenbar seinen Autor selbst überschwemmt hat: Dessen Sprachmacht kapituliert vor dem Furor der Stimmen und gibt nur noch wieder – wer gerade spricht (und zunehmend auch: wovon), ist schwer zu unterscheiden, passieren tut fast nichts (logischerweise: es ist ja alles schon passiert und geht nun zu Ende). Das entstehende Bild vom seelischen Zustand der Menschen, die all das seit den frühen Achtzigern herbei- und ausgeführt haben, ist der in seiner nihilistischen Konsequenz beeindruckende und deprimierende Lohn einer Lesearbeit, die man nicht unterbrechen sollte, weil man sonst vollends Faden und Interesse verliert.

Am Ende bleibt nur die Frage, wem der Autor all dies mitteilen möchte: den „Mittelschicht“-Millionären, die von der Krise ansonsten nur mitkriegen, daß Rotwein und Crevetten teurer werden und ihr Aktiendepot auf wundersame Weise seit 2008 seinen „Wert“ verdoppelt hat, und deren Monopolfeuilleton und „Kultur“-Betrieb „Am Ufer“ vielleicht gerade deshalb zum „Roman des Jahres“ gewählt hat, weil man sich am Kaminfeuer so schön daran gruseln und hinterher schwer betroffen von den „Werten Europas“ sabbeln kann? den neuneinhalb Bevölkerungszehnteln, die jede Seite davon in eigener Version täglich erleiden und deshalb in den Höllenschlund des Fernsehens flüchten? oder pseudolinken Theoriedilettanten, die das alles irgendwie schon immer gewußt haben und Resignation und Frust über ihre Marginalisierung wahlweise als „Ecce homo!“-Gepranger oder unterschwellig rassistische Tiraden gegen „Kloakennostalgiker“ in die vermeintliche Welt plärren?

Schwer zu sagen. Vielleicht mußte das Buch einfach geschrieben werden, wie eine Lava hinaus muß aus dem Vulkan, damit er nicht platzt.

geschrieben Anfang Februar 2014 für KONKRET

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