(Aus dem tiefen Archiv:) Bestsellende Groschenhefte

Die Süddeutsche Zeitung fand es letzten Herbst vermeldenswert, die mittlerweile inflationär in den Illustrierten wuchernden Bestsellerlisten hätten „offenbar nicht, wie sich die Verlage erhoffen, auch noch zusätzliche werbende Wirkung“. Laut einer Umfrage nämlich seien derartige Buch-Hitparaden „nur für 27 Prozent der Deutschen eine wichtige Orientierungshilfe“. Man greift sich an den Kopf und fragt sich verzweifelt, was für eine Form von Journalismus es sein könnte, wenn man einer Reklametrommel, deren Gedonner ein gutes Viertel der Gesamtbevölkerung Folge leistet, die Wirksamkeit abspricht – ganz offensichtlich ist das Gegenteil richtig, und wenn ein Viertel aller Bücher, die überhaupt verkauft werden, zuvor schon Bestseller sind und es deswegen auch bleiben, möchte man als wohlmeinender Buchrezensent die eigene Wirksamkeit mit der einer Stubenfliege auf einem Neonazikongreß vergleichen und zur intellektuellen Selbstentleibung schreiten: Lest doch, was ihr wollt!

Ein Blick auf eine solche Liste – in diesem Fall: die des Börsenvereins des deutschen Buchhandels von Mitte Mai 2010 – ergibt die weiterführende Erkenntnis, daß die Wirksamkeit umgekehrt auch nicht größer ist, denn von den dort aufgeführten 25 belletristischen Bänden ist dem Autor dieser Zeilen nicht ein einziger und kaum einer der Autoren auch nur flüchtig bekannt, zu schweigen von Verlagen wie Allegria, Baumhaus-Medien und Penhaligon, hinter denen er eher eine Frauenverblödungspostille, einen Ökokatalog und ein homöopathisches Tröpfchen für den inneren Engel vermutet hätte. Ein Großteil der Titel (und der sie verlegenden Firmen) wiederum läßt aus Erfahrung vermuten, daß sich dahinter derselbe Einheitsstuß verbirgt wie hinter ähnlichen Titeln seit Jahrzehnten: „Der Feind im Schatten“ (Zsolnay), „Erbarmen“ (dtv), „Mit dir an meiner Seite“ und „Der Menschenräuber“ (beide Heyne), „Das Gold der Maori“ (Bastei), „Cash“ und „Betrogen“ (beide Fischer), „Todesspiele“ (Droemer Knaur) usw. usf. …

Das hat man alles so unendlich oft auf Stapeln in Kaufhäusern gesehen, daß man sich die Kitschtitelbilder (von der gelbrot besonnten Savanne bis zum erhobenen Blutdolch) automatisch dazudenkt und den Inhalt (heutzutage mangels Interesse an sprachlichen Qualitäten „Plot“ genannt) in drei Sätzen aufsagen könnte, wenn man jemals Lust verspürt hätte, den reaktionären bis esoterischen Schwachsinn einer exemplarischen Lektüre zu unterziehen.

Wieso wird der immergleiche Schund immer wieder gekauft? Weil ihn alle kaufen? Wer sind dann die ersten, die das tun, und warum? Und weshalb kennt kein Mensch, den man kennt, eines dieser Bücher? Bleiben wir bei Frage eins und stellen versuchsweise die These auf, das sei früher anders gewesen. Das scheint sich belegen zu lassen: Im Mai 1968 waren auf der Liste der meistverkauften (belletristischen) Bücher Elia Kazan, Michail Bulgakow, Hubert Fichte, Simone de Beauvoir und Henry Miller vertreten, und wenn man die Frage der Zuverlässigkeit der Zählungen (ebenso wie die nicht von der Hand zu weisende Tatsache, daß die heutigen „Buchkaufhäuser“ damals noch nicht einmal denkbar waren) außer acht läßt und sich durch die meistverkauften Bücher der sechziger oder früherer Jahre wühlt, zieht einen der Kulturpessimismus hinab wie ein übler Sumpf. Von Siegfried Lenz bis Mao Zedong, von Capote bis Marcuse, Arendt, Burgess, Lem, Jungk, Nabokov, Golding, Bradbury, Dürrenmatt, Pavese, Orwell, Greene, Malaparte, Mailer, Camus, Kogon waren die Abgriffhalden jener Zeit offenbar angefüllt mit Weltliteratur. Wann und warum hat sich das geändert?

Die Antwort ist klar: Es ging, wie das meiste, was der fortschreitende Endkapitalismus an intellektuellen Verfallserscheinungen mit sich zieht, schleichend voran. Erich von Dänikens Außerirdischengetue ragte in einer Zeit, als man schon C. W. Ceram und Werner Kellers Dauerbestseller „Und die Bibel hat doch recht“ (1955) als populärwissenschaftlich anprangerte, als Monolith der Weichköpfigkeit heraus, Dale Carnegie deckte das „Ratgeber“-Sortiment über Jahrzehnte zuverlässig ab, und auch trivialer Kitsch wie Eric Malpass’ immerhin auf Shakespeare zurückzuführende Gaylord-Schmonzetten verirrte sich hie und da in die Listen, aber das Konzept „Bestseller“ – also ein Buch, das die Massen ohne Rücksicht auf seine literarische oder sonstige Qualität allein aufgrund gezielter Reklame oder zu erwartender Verkaufserfolge einfach so kaufen – war wohl in der BRD noch zu wenig verankert, um Wirkung zu entfalten.

Gekauft (und damit aber noch nicht automatisch gelesen) wurde, was (auch, aber nicht nur) die Kritik als wertvoll, mindestens aber wichtig identifiziert hatte. Den Hunger nach billigem Zeitvertreibsschund stillten derweil „Landser“-Hefte, Arzt- und Schicksalsromane, pseudoamerikanische Krimi-, Western- und Science-fiction-Serien, denen gemeinsam war, daß sie mit rassistischen, militaristischen, heroistischen und geschichtsfälscherischen Elementen einen wesentlichen Beitrag zur Abtötung des schlechten Gewissens der Nazigeneration leisteten und zugleich in einer als logisch empfundenen Kontinuität den Kalten Krieg quasi naturgesetzlich in den Köpfen nicht nur derer verankerten, die schon vor 1945 die Kommunisten für schlimmer gehalten hatten als die Massenmörder im eigenen Haus (oder der eigenen Haut). Derlei Zeug gibt es massenweise seit dem späten 18. Jahrhundert, aber eben nicht im „normalen“ Buchhandel, sondern am Kiosk und im Kaufhaus, es galt selbst seinen Konsumenten nicht als Literatur, und seine immensen Verkaufszahlen schlugen sich selbstverständlich nicht in Bestsellerlisten nieder.

Dann stieg die Zahl der als Buch veröffentlichten Titel immer mehr, und damit wuchs auch das Bedürfnis nach Orientierung, das zunächst noch die allerdings in Rekordzeit verwahrloste und auf Massenkompatibilität getrimmte Kritik stillte – mit einem wohligen Schaudern entsinnt sich der Autor der eigenen Anstellung in einer Buchhandlung in den Neunzigern, als am Tag nach „Der Sendung“ stets riesige Stapel der Bücher, über die Reich-Ranicki, Karasek und Löffler schwadroniert hatten (meist ohne sie gelesen zu haben), in die Regale geräumt und umgehend „abverkauft“ wurden. Die Frage, ob all die Bücher wirklich (noch) wer las, trat in den Hintergrund, weil über Literatur nicht mehr öffentlich diskutiert wurde, – unmittelbar nach Erscheinen waren sie kein „Thema“ mehr, es mußten ja die nächsten Halden an Titeln irgendwie an den Käufer gebracht werden. Rezensenten, die ein drei Monate altes, bereits „besprochenes“ Buch noch einmal hervorzogen, sich gar mit seiner Rezeption beschäftigten, galten als verworrene Spinner.

Die Verlage leisteten dem Vorschub, in ihrem ohnmächtigen Furor, so viel wie möglich auf den Markt zu werfen, um die zurückgehenden Absatzzahlen zu kompensieren (und, zumindest vorgeblich, die wenigen „wichtigen“, aber angeblich kaum verkäuflichen Bücher zu subventionieren). Und sie erreichten das Gegenteil: Als selbst ein vordem als verläßliches Haus für Niveau und Qualität geltender Verlag wie Suhrkamp anfing, sein Sortiment um simple Krimis zu erweitern, griff niemand mehr einfach so zu Büchern, nur weil ein guter Name draufstand. Kaum eine Zeitschrift leistete sich noch echte Kritiker, und wenn doch, mußten diese mit blutendem Herzen Zehn-Zeilen-Kauftips zu Zeug tippen, das die Anzeigenabteilungen vorgaben und das sie mangels Zeit oft kaum angelesen hatten.

Und die Buchhändler? Auch von denen war kaum mehr zu hören als Ächzen und Seufzen über den trivialen Müll, den sie ihren Kunden notgedrungen andrehen mußten, weil die’s verlangten und ihre Empfehlungen ignorierten (falls sie zu solchen angesichts der anschwellenden Flut von Leseproben und der wirtschaftlichen Not, in die die wuchernden Konzerne und Ketten sie stürzten, überhaupt noch willens und in der Lage waren).

Die Folge dieser vielfältigen und doch einheitlichen Entwicklung nach unten ist fatal: Da ein literarisches Kunstwerk erst zum „Kulturwerk“ (Gilbert Adair) wird, wenn „darüber nachgedacht, gesprochen, gelesen, kommuniziert, wenn es mit anderen geteilt wurde“ (ders.), könnte man behaupten, daß es eine literarische Kultur heute, im Zeitalter der belanglos durch Kaufhäuser, Wohnzimmer und Altpapiercontainer flutenden Bestseller (wo ein Großteil der Produktion schon wenige Wochen nach Erscheinen im Second-hand-Internetladen für 0,01 Euro zu haben ist, plus Versandkosten, von denen der antiquarische Buchhandel inzwischen offenbar lebt) und der wenigen „bedeutenden“ Bücher, über die man ab und an in den Feuilletons liest, die aber niemand kauft, gar nicht mehr gibt.

Die Popmusik, die ähnliches ebenfalls seit vielen Jahren durchmacht, die gemeuchelt wird von verblödeten Konzernexekutoren, die die Welt mit Müll zuschütten und gleichzeitig jammern, daß niemand den Müll mehr kaufen mag, hat hier einen großen Vorteil: Sie läßt sich zwangsversenden, über gleichgeschaltete Radios und ein Arsenal von Beschallungsapparaten, denen kaum vollständig zu entkommen ist. Mit einem Buch geht das nicht – oder zumindest nicht so gut; man kann es höchstens durch aufwendige Medienkampagnen zum Bestseller aufpumpen, dem gleichwohl der Ruch anhängt, niemand habe sich über den Kaufvorgang hinaus je damit beschäftigt. Wer einmal versucht, ein paar Seiten von Paulo Coelho tatsächlich zu lesen, MUSS das glauben oder an einer Menschheit, die dem Mann binnen zwanzig Jahren eine annähernd dreistellige Millionenzahl von Schwarten abgekauft hat, verzweifeln.

Es gibt also zwei Arten, die deutlichen Unterschiede in den Bestsellerlisten früherer und heutiger Zeiten zu deuten. Die eine ist die Vermutung, es gebe diese Unterschiede gar nicht. Früher kaufte man gute Bücher, las sie sporadisch und vergnügte sich ansonsten mit blödem Mist, der nicht wie heute gebunden in angesehenen Verlagen erschien, sondern als Groschenheft verramscht wurde und deswegen nicht auf Buchverkaufslisten erschien. Heute kauft und liest man nach wie vor gute Bücher, die es aber nicht mehr in die Listen schaffen, weil dort der dumme Dreck sich tummelt, der von einstmals angesehenen Verlagen in (angemessen billig zusammengeleimten, aber protzteuer verkauften) Hardcover-Ausgaben zum „Event“ hochtrompetet wird, während gleichzeitig und logischerweise die Auflagenzahlen der Groschenromanindustrie zurückgehen.

So hätte sich insgesamt kaum etwas verändert, abgesehen von Charakter und Aussage der Listen: Die bilden heute ab, was sie früher ignoriert haben, und umgekehrt. Man könnte sie umbenennen, wenn ihr Name nicht von je her wertfrei wäre.

So einfach ist die Sache aber nicht, wie ein Blick aus dem Fenster, auf die Straßen, ins Fernsehen, an den Kiosk, in Kneipen, Kinos, Internet zeigt: Es scheint, als würde überall das, was einst als Bodensatz galt, als Krone der Kultur zelebriert, vom „Blockbuster“ bis hin zu all dem einst peinlichen Zeug, das in nostalgischer Verklärung als „Kult“ eine teure Wiederauferstehung in die „Unsterblichkeit“ erlebt – und hat sich nicht auch (zum Beispiel) die Rezeption des Fußballspiels (seit der Weltmeisterschaft 2002) und der Schlagerkloake „Grand Prix d’Eurovision“ zumindest hierzulande bis in angeblich intellektuelle Kreise hinein so komplett verändert, daß man angesichts der tobenden, entfesselt fähnchenschwenkenden Nationalistenhorden meinen möchte, man habe die Vorladung zur verpflichtenden allgemeinen Gehirnamputation in der Post übersehen?

Ist es da ein Wunder, daß literarisch anspruchsvolle Belletristik meist nur noch von Kleinstverlagen ohne Profitanspruch gepflegt wird? Und wer ist daran schuld? Die Herrschenden, ob sie sich nun Regierung oder Wirtschaft oder „Elite“ nennen? Im Falle des Buch(un)wesens: „mächtige Kräfte“, wie Hainer Plaul in seiner „Illustrierten Geschichte der Trivialliteratur“ vermutet? Konzerne und Medien, die uns verblöden, egal ob absichtlich und gezielt oder unter dem Joch ökonomischer Zwänge, die wir ihnen auferlegen, weil wir uns weigern, das im Kapitalismus nun einmal unabdingbare Wachstum durch immer schnelleres Weglesen von immer mehr „guter“ Literatur zu erzeugen?

Es ist wohl wie bei vielen kulturpessimistischen Verschwörungstheorien, die letztlich ohne Verschwörung und Verschwörer auskommen: Wenn man Trinkwasser und Gülle mischt, ist irgendwann alles Gülle. Und die Dummheit setzt sich im Kapitalismus ganz von alleine durch, wenn niemand ihr einen Damm entgegenbaut.

geschrieben im Mai 2010 für KONKRET

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