Im Regal: Hanna Lemke „Gesichertes“ (eine exemplarische Kritik der Institutsliteratur)

Man meint, jüngeren Lesern das schon erklären zu müssen: daß vor einem guten Jahrzehnt einmal eine „Literatur“ in Deutschland mehr aufpilzte als -blühte, die in „Instituten“ gelehrt wurde, nachdem sie Kulturhampelmänner wie Hellmuth Karasek zum „Sound einer Generation“ erhoben hatten, die aber kaum mehr als der verspätete Neuaufguß des „Sounds“ von Raymond Carver war, oder sagen wir: dessen, was sein Lektor Gordon Lish daraus zusammenmontiert hatte und was nun die „Lakonie“ zu einem fast ebenso häufig in der Gegend herumgeworfenen Modewort machte wie ein Jahrhundert zuvor die Hysterie. 1991 (drei Jahre nach seinem Tod) war dieser Rudimentär-Carver in den USA berühmt geworden, 1993 durch Robert Altmans Verfilmung „Short Cuts“ weltweit, 1998 durch Judith Hermanns Bestseller „Sommerhaus, später“ auch in Deutschland, wo dann auch bald eine Werkausgabe erschien, die zur Hauptlektüre der jungen Menschen wurde, die sich in „Literaturinstituten“ versammelten, um zu lernen, wie man so schreibt und genauso viel Erfolg hat wie Judith Hermann.

Das wäre alles höchstens für spezialisierte Literaturhistoriker von Interesse, hätten nicht gleichzeitig die Verlage beschlossen, es endgültig aufzugeben, Manuskripte zu lesen, und statt dessen lieber immer mal eine Handvoll möglichst photogen-schwermütig dreinglotzender Institutsschüler aufzugabeln, um sozusagen per Schrotschuß „die neue Hermann“ zu generieren – oder am besten zehn, dreißig, fünfzig davon. Hängt man die Titel dieser zwischen 2000 und 2006 erschienenen Bücherflut aneinander, ergibt sich tatsächlich eine Art hübsches Gedicht, mit dem weitgehend alles gesagt ist über all die aufgeblasenen Banalitäten zwischen den Deckeln, abgesondert von jungen Menschen, die ganz offensichtlich noch nie etwas erlebt hatten, sich auch nichts vorstellen und schon gar nicht mit Sprache umgehen, sondern einfach ein bisserl was in den Laptop tippen wollten, um fortan als hofierte Modeliteraten im Café zu sitzen, in die Vormittagstrübe zu melancholisieren und nebenbei vielleicht mal ein „Open Mike“ zu gewinnen.
Irgendwann flaute der Sandsturm der Beliebigkeiten dann wieder ab und machte völliger Orientierungslosigkeit Platz.

Eine wirkliche junge Literatur, die auch und vor allem zweitere Bezeichnung verdient gehabt hätte, ließ sich nicht mehr „etablieren“ (da hätte man zumindest mal Manuskripte lesen müssen, zumindest die, die nicht aus den nach wie vor weiterwurstenden Instituten kommt; doch, die gäbe es durchaus), also verließen sich die Verlage auf ganz Alt- und Hausbackenes. Was auch nicht so sehr zog, von Daniel Kehlmann abgesehen, der allerdings den Nachteil hat, daß er schreiben kann und sich so leicht weder imitieren noch aufgießen läßt und daß von den Berufslektoren auch keiner nachvollziehen konnte, wieso der eigentlich so erfolgreich war.

Die Instituts-„Literatur“ indes wurstet, wie gesagt, unablässig weiter, erzählt nach wie vor das gleiche (nämlich nichts: von Menschen, die in leeren Zeitlupenalltagen herumhängen und dies und das tun, zum Beispiel bedeutungsschwanger rote Limonade trinken, Telephonhörer anstarren und berühren und Geldscheine vom Balkon wehen lassen, bis es dunkel wird, immer wieder), aber inzwischen in einer „Sprache“, die vermuten läßt, daß auch die Lektoren neuerdings „Institute“ besuchen (oder gar nichts mehr tun außer roter Limonade zu trinken, Telephonhörer zu berühren und Geldscheine vom Balkon wehen zu lassen).

Hanna Lemke, 1981 geboren, hat vier Jahre lang (!) am „Deutschen Literaturinstitut Leipzig“ „studiert“, einer mittlerweile besonders notorischen Einrichtung, nach deren Absolvenz man offenbar nur in der Lage ist, Stilblüten abzusondern, als wär’s ein Karneval: „Es war, als würden sie so tun, als seien sie erwachsen“ ist nur eines von vielen Beispielen, die schon nach ein paar Seiten die Vermutung nahelegen, das alles sei am Ende als Parodie gedacht auf die Instituts-„Literatur“, die aber wahrscheinlich nur derart zur Selbstparodie verkommen ist, daß sie und der ganze hohle Betrieb um sie herum es schon lange nicht mehr merken. „Erzählt“ wird in diesen Geschichten von pappkameradenhaften Protagonisten, die dies und das tun, während sie in einer weltlosen Welt herumtaumeln, die es gar nicht gibt und wo es nichts gibt, weil man das ja erst einmal erdenken, ersinnen und sprachlich fassen müßte. Wenn dann auch noch einer davon sagt: „Kannst du mich alleine lassen, bitte, kannst du mich bitte, bitte alleine lassen“, ist die Parodie bei der Carverei selbst angekommen (der erste Band der Werkausgabe hieß damals „Würdest Du bitte endlich still sein, bitte …“), und bei „Und das Schlimme, also das wirklich Schlimme an dem Film war, es war ein totaler Kitsch“ ist weitgehend alles gesagt – den Film kennt man, ohne ihn je gesehen zu haben (es gibt ihn wohl auch nicht), das Buch, das da verfilmt wurde, mag man nicht noch ein fünfzigstes Mal aufblättern, mit wieder neuem Titel und neuem „Talent“-Photo auf der Klappe.

Wie ertragen diese Menschen dieses vollkommen leere Lesen, Schreiben, Lesen? fragt man sich kopfschüttelnd, legt das Zeug dann aber doch einfach weg, zieht ein altes, gutes Buch aus dem Regal und denkt, daß das alles wahrscheinlich irgendwann doch von selber wieder verschwinden wird, wenn es niemand mehr beachtet.

geschrieben am 18. Februar 2010 aus reiner Notwendigkeit, ohne Auftrag und Aussicht auf Veröffentlichung

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