Im Regal: Antonio dal Masetto „Als wär’s ein fremdes Land“

Die Gegenwart, schrieb Vladimir Nabokov einst, sei nur die Spitze der Vergangenheit, und eine Zukunft existiere nicht. Merkwürdig, daß sich der Mensch seiner Vergangenheit oft erst entsinnt, wenn die Zukunftserwartungen rein statistisch auf unberechenbare Tagen, Wochen, Stunden zusammengeschrumpft sind – aber irgendwie auch logisch, schließlich soll das Leben immer irgendwann besser werden, angeblich, und die Erkenntnis, wie gut es einmal war, daß es überhaupt war und nicht sein wird, gilt modernen Vorwärtsstrebern als verdächtig-nostalgische Verweigerungshaltung.

Mit achtzig spielt das keine Rolle mehr, da ist es Zeit, sich zu erinnern, und Agata, gerade achtzig geworden, beschließt, mehr zu tun als nur daran zu denken, was war: „Ich fahre nach Italien.“ Von dort, aus der Kleinstadt Tarni, ist sie vierzig Jahre zuvor mit ihrem Mann Mario und den Kindern Elsa und Guido nach Argentinien ausgewandert; jetzt will sie die verlorene Heimat zumindest wiedersehen, mit diffusem (oder ohne) Ziel. Sehen, was sich verändert hat, wichtiger: was noch da ist. Menschen spielen dabei emotional (zumindest scheinbar) keine große Rolle, es geht um Orte, Situationen, Szenen, Dinge, die aufgeladen sind mit Erlebnissen. Gibt es das Haus noch, die Fabrik, den Walnußbaum (dessen Krone das letzte war, was sie damals sah)? Nein, alles ist anders, zerstört, vergessen. Ein Schlüsselmoment ist das Wiedersehen der Stelle am längst gesprengten Stauwehr, wo einst die Menschen im Fluß badeten. Agatas leise Verzweiflung über deren Verschwinden überträgt sich auf den Leser, und spätestens jetzt spürt und versteht man, worum es hier geht: tatsächlich um eine Weigerung, den Versuch, sich sein Leben nicht nehmen, es nicht verwehen zu lassen in der Raserei der Welt. Gibt es mich selbst noch?, lautet die eigentliche Frage.

Für Antonio Dal Masetto ist die Geschichte nicht beliebig gewählt. Er ist selbst 1938 im norditalienischen Intra (das Anagramm ist leicht zu erkennen) am Lago Maggiore geboren und als Zwölfjähriger mit den Eltern nach Argentinien ausgewandert. Und es ist nicht sein erster Roman zum Thema: In „Als wäre alles erst gestern gewesen“ (2008 auf deutsch erschienen) erzählte Agata von ihrem Leben bis zur Auswanderung (der folgenden Schiffspassage widmet sich ein kurzes, höchst intensives Kapitel in diesem Buch); diesmal „läßt“ sie sich erzählen, und der „literarische Sohn“ (der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) folgt ihren Bewegungen, Blicken und Gedanken mit außergewöhnlicher Einfühlsamkeit und ebenso unüblicher Diskretion.

Diese Erzählhaltung ist ein meisterhafter Seiltanz; wir erfahren, was Agata sieht und hört, wohin sie geht und was sie tut; wir erfahren auch, daß sie an etwas denkt, daß sie eine oder (gleich zu Beginn) „die“ Idee hat – aber was sie denkt, worin die Idee besteht, teilen uns nur ihre wenigen Worte mit, und meistens nicht einmal die. Das füllt die beiläufigen Dialoge, die ganze ruhige, scheinbar unspektakuläre, nüchtern, unaufgeregt, geradezu stoisch erzählte Geschichte mit Spannung, und es macht sie zugleich rätselhaft und offen, als könnte man hineinschlüpfen in diese Person, die einem so nahe ist und die man dennoch nicht fassen kann, um sie mit den eigenen Erinnerungen und Gedanken zu füllen, in dem sicheren Wissen, daß es die ihren sind.

Mit eitler Nostalgie hat das aber nichts das geringste zu tun, denn Agata erlebt nicht nur vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an die Kälte und Leere der Gegenwart; es schleichen sich bei ihren Ausflügen in die Gegend andere Erinnerungen ein, die sie bereitwillig aufblühen läßt, an Faschismus und Krieg, Gewalt, Unmenschlichkeit und Grausamkeit, mit denen sie beim Besuch einer Ausstellung von Folterinstrumenten und des „Denkmals der 42 Märtyrer von Fondotoce“ konfrontiert wird, die sich in harmlos beginnenden und sich rapide intensivierenden Episoden verbinden mit dem Schrecklichen der Gegenwart, dem Flüchtlingselend, dem bis zum Mord reichenden Haß und der Verachtung, mit denen nicht nur die Menschen in Italien Einwanderern begegnen, was Agata in einer besonders beeindruckenden Szene erlebt, als ein afrikanischer Straßenhändler „scherzweise“ von jungen Burschen aus der Stadt gehetzt wird und sich in den See flüchtet. „Er bewegte lediglich die Arme, um an der Oberfläche zu bleiben, eine undeutliche Gestalt, die sich mit den Wellen auf- und abbewegte. Agata fragte sich, was er wohl sah, was er dort draußen im Dunkeln fühlte, mit den Lichtern der Ortschaft vor sich und den Leuten, die ihn wie von einer Tribüne aus anstarrten. Was ging durch diesen Kopf eines Einwanderers, eines Heimatlosen? Ein schwarzer Junge, der von weit her gekommen war, aus einem warmen Land Afrikas, allein in eine kalte Bergregion im Norden, ausgestoßen aus der Welt, ohne jede Zugehörigkeit, der Zuflucht suchte im eisigen Wasser eines Sees, um der Gewalt zu entgehen.“

Es ist eine der wenigen Passagen des Buchs, deren Symbolik so eindeutig ist, die unmittelbar anrühren (oder erschrecken), aber selbst hier wird kein Pathos spürbar, nur Bedeutung, die sich wiederfindet in Agatas Gesprächen mit der jungen Silvana, die sie bei ihren Ausflügen begleitet, woraus sich eine spürbare, nie definierte Freundschaft entwickelt, die ihr von den so individuellen wie typischen Problemen mit ihrem Mann berichtet, in anderen Begegnungen, Beobachtungen, einem tödlichen Unfall, der „Hinrichtung“ eines Vogels, einem Diebstahl, der Suche nach einem vergrabenen Kindheitsschatz, einer unangenehmen Episode im Haus einer Verwandten, auch und vor allem in dem Brief, den Agata an ihre Familie schreibt und von dem wir wörtlich nichts erfahren, nur wie er seine Bedeutung ändert: Zunächst scheint es, als könnte sie nichts von dem beschreiben und mitteilen, was sie erlebt. „Und auf einmal geschah etwas. Sie erkannte ihren eigenen Brief fast nicht wieder. Es war ihre Schrift, doch hatte sie einen anderen Text vor sich, hatte den Eindruck, Sätze zu lesen, die jemand anders geschrieben hatte. Während des Lesens entdeckte sie, daß in ihrem Brief viel mehr steckte, als sie festgehalten zu haben glaubte. (…) Was sie als nicht greifbar empfunden hatte, hatte eine Form bekommen. Was sie zu sagen versucht und dann abgebrochen hatte, stand da. Es war, als wären die Worte, die auf diesen Blättern standen, gereift und hätten sich im Laufe der Tage mit Sinn gefüllt.“

Das ist das Geheimnis nicht nur des Briefs, sondern des ganzen Buchs, das ein stilles, kleines, unauffälliges ist, aber als eines der schönsten, beeindruckendsten und wiederlesenswertesten im Gedächtnis bleibt, die der Autor dieser Zeilen in den letzten Jahren gelesen hat.

geschrieben Anfang März 2010 für KONKRET

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