(periphere Notate): Wörter, Bücher und die rassige Welt

Von manchen Frauen sagten manche Leute (vermutlich Männer) früher, sie seien „rassig“. Das ist eines der wenigen deutschen Wörter geblieben, von denen ich bis heute nicht die geringste Ahnung habe, was sie bedeuten. Es könnte sogar das einzige deutsche Wort sein, bei dem ich mir ziemlich sicher bin, daß in den letzten dreihundert Jahren niemand, der es aussprach oder hinschrieb, wußte, was es heißt.

So funktionieren Sprachen halt auch: Es kommen bisweilen Wörter hinein, von denen niemand so recht weiß, was sie bedeuten. Man benutzt sie eine Weile; manchmal bedeuten sie irgendwann auch etwas (meist etwas ganz anderes), was sie dann wieder nicht mehr bedeuten, und dann sagt man sie trotzdem weiterhin und irgendwann nicht mehr, damit man nicht für blöd oder hochgestochen gehalten wird. Und vielleicht bleibt ab und zu so ein Wort trotzdem hängen, weil es eine unergründliche Freude macht, es auszusprechen. Irgendwem jedenfalls, mir nicht.

Wenn ich genauer darüber nachdenke, gibt es hunderte deutsche Wörter, von denen ich nicht weiß, was sie eigentlich bedeuten. „Eigentlich“ ist eines davon. Beispiele sind aber auch „wenn“, „ich“, „genauer“, „darüber“ (vor allem in Verbindung mit „nachdenken“), und wenn ich lange genug nachdenke, fällt mir überhaupt kein deutsches Wort mehr ein, von dem ich wüßte, was es „genau“ heißt. Was bedeutet „heißen“, und was heißt „bedeuten“?

Letzteres kann ich mir dann aber erklären, indem ich mit dem Finger auf etwas deute, mir vorstelle, ich sei ein Wort, und in dem „be“ eine Art gerichtet tätige Hinwendung erahne, ähnlich wie in „be-greifen“, „be-sitzen“ und „be-setzen“. Aber das sind alles nur Annäherungen. Man kommt in kein einziges Wort wirklich hinein.

Das ist aber banal und trivial. Gäbe es die Möglichkeit, ein Wort wirklich so zu erklären, daß Wort und Erklärung gleichwertig und gleichbedeutend wären, bräuchte es das Wort nicht mehr. Auf diese Weise müßten zwangsläufig immer mehr Wörter aus der Sprache verschwinden, bis am Ende nur noch eines übrig bliebe, mit dem man nun lauter Sachen erklären könnte, die es gar nicht mehr gäbe und die deswegen auch keiner Erklärung bedürften.

Interessant an dieser absurden Entwicklung wäre, ob mit den Wörtern auch die Gegenstände und Abstrakta, die Gefühle und Sensationen, Erregungen und Zustände, Vorgänge und letztlich das Verschwinden selbst aus der Welt verschwänden. Also zum Beispiel die Frage ob, wenn man sagen könnte, was „Liebe“ bedeutet, die Liebe sich automatisch in etwas anderes verwandeln müßte, was es kurz darauf auch nicht mehr geben könnte.

Ein lieber Freund erzählte mir vor einiger Zeit bei einem Biergartenbesuch von einem Literaturpreis, für den man sich selbst empfehlen könne, also praktisch keine andere Begründung bräuchte als daß man schreibt. Das erschien mir etwas bizarr, aber auch charmant. Leider fällt es mir ungeheuer schwer, mich selbst für etwas zu empfehlen, das war schon immer so.

Andererseits fällt es aufrichtigen Künstlern (ich halte mich ganz bescheiden für einen solchen, weil das ja weder Prädikat noch Auszeichnung ist und noch nicht einmal auf eine Tugend, ein Talent oder sonst was hinweist) generell schwer, sich selbst für etwas zu empfehlen – weil die Aufrichtigkeit die Einsicht bedingt, daß man nicht besonders viel kann, nie das zustandebringt, was man zustandebringen möchte, und im Grunde für fast oder überhaupt nichts gut ist. Das wiederum führt dazu, daß Literaturpreise und andere solche unverdienten Geschenke (jedes Geschenk ist unverdient) immer bei denen landen, die gar keine aufrichtigen Künstler sind, sondern zum Beispiel clevere Geschäftsleute, kluge Planer („Netzwerker“) oder narzißtische Ganoven. Und hin und wieder vielleicht an einen aufrichtigen Künstler, dem es gelungen oder passiert ist, daß clevere Geschäftsleute, kluge Planer und narzißtische Ganoven ihm ihre Gunst schenken und sich etwas davon versprechen, ihn für einen Preis zu empfehlen.

So gesehen wäre es dringend nötig, sich für einen Preis, für den man sich selbst empfehlen kann, zu empfehlen. Weil sonst auch diesen Preis wieder einer von den narzißtischen Ganoven erhält, die alle Preise erhalten. Leider kam mir dieser Gedanke erst an dem langen Abend nach unserem Biergartenbesuch, und da hatte ich sämtliche Einzelheiten zu dem wunderlichen Preis gründlich vergessen. Ich hatte am nächsten Morgen auch vergessen, daß der Freund überhaupt von einem Preis erzählt hatte, ebenso wie die meisten weiteren Details unseres Gesprächs, weil von solchen Gesprächen unter Freunden im besten Fall genau das bleibt, was von der Vergangenheit insgesamt bleiben sollte: ein wohlig-nebeliges Gefühl des Schwebens in wundervollen Gedankenwolken, die niemals greifbar werden, denen aber vielleicht eines Tages das entspringt, was Wolken hin und wieder entspringt: ein Blitz.

Gemeint ist ein Gedankenblitz, aber das muß ich nicht erklären. Wenn ich Anton Zeilinger richtig verstehe, ist ein Blitz exakt genau dasselbe wie ein Gedanke und von einem (gänzlich) außenstehenden Beobachter von einem solchen auch nicht zu unterscheiden. Wobei es freilich keinen gänzlich außenstehenden Beobachter geben kann, aber das ist hier egal.

Tatsächlich habe ich in meinem ganzen Leben genau einmal eine Art Literaturpreis erhalten, für den ich mich selbst empfehlen nicht nur durfte, sondern mußte, allerdings unter Vorlage konkreter Argumente in Form eines angefangenen Romans („Romanprojekt“) samt kurzer Beschreibung, worum es darin gehe. Mit Romanen ist es meiner Erfahrung nach (ich habe nur drei geschrieben) ähnlich wie mit Wörtern: Könnte man „kurz“ beschreiben, worum es darin geht und was der Roman bedeutet, täte man selbstverständlich die kurze Beschreibung dem Roman vorziehen, weil sie der Roman wäre. Es gibt keinen guten, gelungenen Roman, dessen Beschreibung auch nur ein Wort weniger oder ein anderes Wort enthielte als der Roman selbst. Auch das ist banal und trivial: So „funktioniert“ Kunst.

Der Preis war (vergleichsweise) knapp, für mich jedoch fürstlich dotiert und zudem eine ungeheure Erfahrung: Plötzlich – buchstäblich innerhalb der zwanzig Sekunden, die es dauerte, die Benachrichtigung zu lesen – war ich von einem Menschen, der Texte schrieb, zum Schriftsteller geworden, zu einem preisgekrönten gar, was weitgehend das gleiche bedeutet. Oder eigentlich nicht „preisgekrönt“, sondern stipendisiert oder wie man das sagt. (Ein sehr geschätzter Professor hat einmal in einer Vorlesung erklärt, daß „Stipendium“ kein Wort ist, sondern ein Rudiment, das durch eine regelhafte Verkürzung des Worts „Stipipendium“ entstanden ist oder sei.)

Manchmal erstaunt es mich, wie viele Schriftsteller es in Deutschland angeblich gibt. Ich selbst kenne in diesem Land nur fünf oder sieben Menschen, vielleicht sind es auch zwölf, die am Leben sind und die ich als Schriftsteller bezeichnen würde. Ich selbst bin nur darunter, wenn mich jemand nach meiner „Tätigkeit“ fragt; ich fühle mich dabei stets als Lügner, zum Beispiel weil noch nie ein „Literaturverlag“ auch nur einen einzigen Text von mir veröffentlichen wollte, ohne dazu mehr oder weniger gezwungen worden zu sein (nicht von mir).

Aber hier fängt die Verwirrung an oder ist schon fortgeschritten: Wenn jeder „Schriftsteller“ genannt wird, der es geschafft hat, daß ein Verlag sein Buch veröffentlicht – selbst falls tatsächlich der Lektor das Buch geschrieben hat (was wesentlich häufiger vorkommt, als man meint), selbst wenn kein zweites Buch folgt oder nur noch Schrott, selbst wenn das erste Buch sich nach Abflauen der gekauften und erschlichenen Rezensionspropaganda als Schrott erweist –, dann ist leicht nachzuvollziehen, daß zehntausend oder eine Million Schriftsteller in Deutschland täglich das Internet nach Preisen durchforsten, für die man sich selbst empfehlen oder von Verlagen, Lektoren, Gönnern und netzwerkenden Influencerkumpels empfohlen werden kann. Aber was ist dann mit denen, die ein Leben lang Geschichten und Bücher und sonst was schreiben, was nie veröffentlicht wird, weil es in kein Marketingkonzept paßt, oder eben doch, aber weitgehend unbemerkt von Betrieb und Massen?

Vor einiger Zeit habe ich ein Buch gefunden, in dem Texte „aufregender, vielversprechender neuer Stimmen“ versammelt waren. Das Buch war gar nicht so alt, aber eine kurze Recherche ergab, daß die meisten darin präsentierten Autoren bereits wieder verstorben waren, ohne daß ich je von ihnen gehört hatte.

Bei dem, was man (auch ich) fälschlich „Neoliberalismus“ nennt, geht es nicht um Freiheit. Oder höchstens in einer vollkommen pervertierten „Form“: als die Möglichkeit und Erlaubnis, andere Menschen hemmungslos zu versklaven und auszubeuten, sowie die „Freiheit“ der Ausgebeuteten, den Verlust an Leben durch maßvollen Konsum und geregelte Ausbrüche von Aggression zu kompensieren.

Ich weiß noch, wohin die oben gesponnenen Gedanken führen sollten. Ich weiß nicht, ob Gedanken überhaupt irgendwohin „führen“ können oder ob sie das vielmehr gar nicht dürfen.

Das erwähnte Stipendium habe ich übrigens nicht allein erhalten, sondern gemeinsam mit vier oder fünf Autoren, von denen ich mich nur an zwei dunkel erinnere. Das fertiggeschriebene Buch des einen erschien Jahre später in einem (wie man so sagt) renommierten Verlag. Es war kein Erfolg. Vielmehr wurde die Reihe, in der es erschien, unmittelbar darauf eingestellt. Solche Reihen, die dazu dienen sollen, einzelne Produkte aus den Lawinen gesichtsloser Massenprodukte herauszuheben, indem man sie „Neue Stimmen“ (siehe oben) oder so nennt, bestehen meist nur in einer neu geschaffenen Planstelle in einem Verlagskonzern, die nach dem erwartbaren Mißerfolg wieder gestrichen wird.

Der zweite Kollege erhielt für sein „Projekt“ nach Fertigstellung noch mindestens einen weiteren Preis, hatte sich damit als Schriftsteller legitimiert und veröffentlichte weiterhin Bücher, ungefähr sieben Stück, für die er ungefähr neun Preise und Stipendien erhielt. Ein jüngeres davon ist mir vor einiger Zeit in die Hände gefallen. Ich fand es nach zwanzig Seiten Lektüre so unerträglich schlecht, daß das Wort „schlecht“ eigentlich die falsche Bezeichnung ist. Aber wer weiß schon, was „schlecht“ heißt und bedeutet?

Der Freund im Biergarten ist übrigens auch Schriftsteller, einer der fünf oder sieben oder dreizehn, die ich so nenne. Er hat einen Berg Bücher geschrieben, die ich liebe (wobei ich einige noch nicht gelesen habe) und die in einem (wie man so sagt) renommierten Verlag erschienen. Auch er hat Preise bekommen, fast doppelt so viele wie der Stipendiumskollege. Die Welt ist nicht so einfach zu verstehen, wie man sich das manchmal wünscht. Möglicherweise ist sie „rassig“?

6 Antworten auf „(periphere Notate): Wörter, Bücher und die rassige Welt“

  1. Vollblüter (Pferde) sind rassig.

    Wie man in „Männerphantasien“ von Theweleit lesen kann, waren die gepanzerten Herren des deutschen militärischen Landadels (oder so, ist lange her) nur zu zärtlicheren Gefühlen gegenüber ihren rassigen Pferden fähig.

    Was das nun mit Frauen zu tun haben mag…

  2. als Esoteriker finde ich nun folgende Koinzidenz wunderbar, als Agnostiker würde ich es zumindest bemerkenswert finden:
    Ich ging gestern einen langen Gang durch Perm. Dachte über Literaturpreise nach. Ich hatte schon mal vor, einen „Fritz-Teufel-Award“ auszuloben, also mit Preisgeld und so. Heute lese ich Michaels Gedanken….Doch nie hatte ich genug Geld. In Russland hier gibt es kaum Kneipen, Biergärten schon gar nicht. Ich kann also mein Geld nicht wie früher versaufen. Deshalb rege ich nun an, daß man einen Literaturpreis auslobt. Ich beteilige mich mit 1.000€ im Jahr. Vielleicht gibt es in der Leserschaft hier Menschen, die das gut finden und mit einsteigen. Der Leiter, Oberjuror soll der Michael Sailer sein. Am liebsten würde ich dem Michael diesen Preis als erstem zuschanzen.
    Sollte jemandem in dieser Runde diese Idee gefallen und der Wusch nach Beteiligung reifen, so schreibt mich an:
    klaus.lyubimovo@gmail.com
    Ich habe genug Zeit mich drum zu kümmern.
    Gruß aus der Taiga

    1. Lieber Klaus, das ist eine schöne Idee. Könnte man sie so „ausdehnen“, daß alle Preisträger auch automatisch Mitglieder der Jury werden? Das fände ich eine fast noch schönere Idee … Danke und schöne Grüße in die Taiga aus der Betonstadt

      1. das wäre eine noch schönere Idee. Ich warte jetzt noch ein, zwei Wochen ab, ob sich da irgendjemand aus deiner Leserschaft, diesem Kreis hier, anschließen mag. Ich werde das durchziehen, ernsthaft. Gruß aus der Taiga

          1. der 2. Juni ist mein Geburtstag, insofern ist „Fritz-Teufel-Award“ oder „Fritz-Teufel-Preis“ oder ähnliches geboten.
            Und Du kennst den auch noch…..
            Weiteres werde ich mit dir privat via email kommunizieren. Ich würde mich echt freuen, wenn sich da noch Energie und Materie versammelt. Gruß aus der Taiga

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