Die europäische Popwelt ist 1978, von den Nachbeben der Punkrevolte erfaßt, nicht leicht zu schockieren, aber was am Abend des 16. Juni in Brüssel über sie hereinbricht, überfordert die stärksten Nerven. Am Ende ziehen Wolken von Tränengas durch den Club „Ancienne Belgique“ am Boulevard Anspach, der nach einer Orgie der Gewalt und Zerstörungswut, die Beobachter mit dem „Ausbruch der Hölle“ vergleichen, nur noch eine Ruine ist, umstellt von einer Hundertschaft fassungsloser Gendarmen. Was ist da passiert? Nicht viel. Oder alles: ein Suicide-Konzert (im Vorprogramm von Elvis Costello).
Acht Jahre zuvor hatte alles angefangen: In einem staatlich unterstützten New Yorker Projekthaus namens „The Project of Living Artists“, wo sich in einem Loft im zweiten Stock Maler, Performance-Artisten, Jazzmusiker und andere Künstler trafen, um vierundzwanzig Stunden am Tag „any fuckin’ thing they wanted“ (Vega) zu tun oder auch nur mangels Wohnung eine Unterkunft zu haben, lernten sich der Free-Jazz-Musiker Martin Rev (bürgerlich Reverby) und der Maler und Bildhauer Alan Vega (bürgerlich Bermovitz) kennen. Vega interessierte sich für Musik, seit er am 3. und 4. September 1969 im New York State Pavilion Iggy Pop und die Stooges erlebt hatte.
Beide lebten damals auf der Straße und hatten radikale Ansichten über moderne Musik, die sie nun gemeinsam umsetzten: alles spielen, was verboten ist, den Rock-Kadaver ausweiden und das Skelett mit Elektroschocks zum Tanz auf dem eigenen Grab bringen. „Es war hart, nichts zum Essen zu haben“, sagte Vega später. „Die Musik war wie eine religiöse Erfahrung für uns. Wir versuchten, die Armut, den Hunger niederzukämpfen, um zu überleben.“
Obwohl die USA damals eine gewisse Undergroundszene um Bands wie die Stooges, MC 5, Electric Eels, Velvet Underground beherbergten, kam Suicides Radikalität 1970 absolut zu früh. Ihre ersten Konzerte – noch als Trio mit dem Gitarristen Paul Liebgott – in Läden wie der Diskothek „Ungano’s“ stießen kaum auf Interesse oder (im Vorprogramm von Captain Beefheart) höchstens Verstörung. Am 13. März 1971 starteten sie in der OK Harris Gallery unter dem Motto „Punk Mass at Midnight“ eine Art Tour durch New Yorker Clubs. Die Zuhörer reagierten größtenteils verstört, auch weil Rev nicht mehr trommelte, sondern nur noch Knöpfe drehte: „Wir waren nicht die ersten, die Drum-Maschinen einsetzten“, sagte er später, „die gab es zum Beispiel auch bei Bar-Mitzvah-Feiern. Aber wie wir sie benützten … ‚Wo ist das verdammte Schlagzeug, Mann?‘ schrien die Leute. Und dann hatten wir auch keine Gitarre, das war damals fürs Publikum wie eine Beleidigung.“
„Wir brachen den Status quo“, meint Vega. „Das macht jede Band irgendwie, aber wir taten es auf vierfache Weise. Erstens der Name, dann die Duobesetzung, das Fehlen von Schlagzeug und Gitarre, und dann kam die Angst hinzu, die wir live erzeugten. Wir schwammen definitiv gegen den Strom.“ Und wie: Zu Revs monotonem Orgelgehämmer schlug Vega mit Fahrradketten um sich und johlte wie unter Strom, was den Korrespondenten der deutschen Zeitschrift POP so überforderte, daß er am 11. Februar 1973 bei seinem Besuch im legendären Mercer Arts Center Martin Rev gleich ganz übersah: Suicide sei „ein bis zum Nabel make-upierter Typ, der mit Vorliebe über Tische und Stühle springt, unschuldige Zuschauer mit Magenstößen bedient oder versucht, sie in Raufereien zu verwickeln.“ Allerdings verzeichnete der Handzettel für diese „Endless All-Night Party“, bei der unter anderen auch die New York Dolls, Wayne County und Eric Emersons Magic Tramps auftraten, das Duo als „Alan Suicide“.
„Wir spielten im Mercer oft gleichzeitig mit den New York Dolls“, erzählte Alan Vega später. „Wenn man von ihrem Raum in unseren kam, war es, als würde man von 1972 nach 2072 gehen.“ Am 3. September 1973 stürzte das Mercer Arts Centre mitsamt dem Broadway Central Hotel ein, kurz vor einem geplanten weiteren Festival mit Suicide und den Dolls – aber nicht während deren Auftritt (wie in der TV-Serie „Vinyl“ sehr spektakulär kolportiert).
Ab 1974 veränderte sich die Situation – für andere. Aus dem spannenden, letztlich aber deprimierenden Muff der New Yorker Szene sprossen im Windschatten der nach ihrem zweiten Album weitgehend schrottreifen New York Dolls neue Bands: Ramones, Dictators, Patti Smith, Television, Talking Heads, Mink de Ville, The Fast, Blondie und andere verwandelten die Stadt – oder Teile davon – in einen weniger sinistren als fröhlich tobenden Hexenkessel neuer Musik. Die meisten der Bands, die regelmäßig in Hilly Kristals Club CBGB gastierten, hatten bald einen Plattenvertrag, nur Suicide waren immer noch zu extrem. „Wir waren als einzige in Manhattan ohne Vertrag geblieben. Es hieß so ungefähr: Wir haben alle gesignt außer Suicide, aber die sind auch das Letzte.“ (Rev) „Ich weiß noch, wie Cheap Trick in unserem Vorprogramm spielten“, erzählt Vega. „Viele Bands wurden Stars, nachdem sie uns supportet hatten. Das war wohl so eine Art Test: Schauen wir mal, ob die Typen vor einem Suicide-Publikum bestehen.“ Es half nicht unbedingt, daß unmittelbar nach einem Suicide-Auftritt am 12. April das Talent Recon Inc. Theatre komplett ausbrannte, was der Inhaber der Band (und speziell ihrem Song „Junkie Jesus“) in die Schuhe schob.
Es war der Ex-New-York-Dolls-Manager und Ramones-„Entdecker“ Marty Thau, der Suicide schließlich bei seinem Label Red Star unterbrachte und gemeinsam mit dem Ramones-Produzenten Craig Leon das Debütalbum produzierte. Es erschien 1977, und obwohl Thau ebenso wie die Band vom kommerziellen Potential der Minimalsongs überzeugt war, blieb die erhoffte Revolution aus; statt Geldbergen erntete man neben viel Verwirrung Stapel von enthusiastischen Kritiken, die mal wieder niemand las. Daß es selbst für Menschen, die sich gierig auf alles stürzten, was auch nur entfernt nach Punk oder New Wave aussah, nicht ganz leicht war, die eigene Begeisterung für Suicide zu verstehen und einzuordnen, kann der Verfasser dieser Zeilen bestätigen: Obwohl sich die Songs wie Brummkreisel im Kopf drehten und man die Platte immer wieder auflegen mußte, blieb eine gewisse Unsicherheit, ob etwas derart Anderes wirklich gut sein konnte.
Als Rev und Vega am 16. Juni 1978 die Bühne des „Ancienne Belgique“ betreten, ist die Reaktion des Publikums indifferent; kaum einer ahnt, was nun kommt. Martin Revs monotone Speed-Beats und zerrende Heimorgelläufe knallen schon beim Opener „Ghost Rider“ so brutal auf die Trommelfelle, daß Alan Vegas gegrummelter Rudimentärgesang, seine hysterischen Schreie, Kiekser und Stöhnlaute schnell zum Ärgernis werden. Im Gegensatz zu heute, wo man sich in dem renovierten Club an der Bar kostenlos Ohrstöpsel aushändigen lassen kann, sind die zweitausend Zuhörer dem Lärmsturm schutzlos ausgesetzt; raus könnten sie – aber dann nicht mehr rein, „aus technischen Gründen“. Ein unwilliger Buh-Chor übertönt zaghaften Beifall (hauptsächlich von Suicides Begleitern), dann kommt „Rocket USA“, noch eine Stufe primitiver, böser, monotoner. Vega läßt sich hineingleiten in den Vulkan von Minimalkrach, als wollte er den Weltuntergang synchronisieren, und diesmal wird der Unmut lauter: „Elvis! Elvis!“ fordern die Chöre, meinen Costello und wissen nicht, daß Presley Vegas absolutes Idol ist und sie ihn damit nur noch mehr anstacheln.
„Cheree“ tönt konventioneller, aber nach dem zickig-hysterischen „Dance“ wird das Buh-Geschrei so impertinent und ansteckend, daß das epische Loser-Höllen-Drama „Frankie Teardrop“ keine Chance mehr bekommt: Eine Zeile, dann ist das Mikro weg. Revs Synthesizer läuft weiter, wie ein elektrisches Schreckschuß-MG. Als er im Hagel von Stühlen, Flaschen und Unrat plötzlich abbricht (weil Rev keine Hand zum Spielen mehr frei hat), feiern die Leute die Stille wie das entscheidende Tor zum belgischen WM-Sieg. Aber Vega fordert und erhält das Mikro noch einmal zurück, darf ein paar weitere Zeilen stammeln – jetzt ohne instrumentale Begleitung –, kräht ein letztes „Shut the fuck up!“ und rettet sein Leben (mit gebrochenem Nasenbein).
Elvis Costello könnte danach leichtes Spiel haben, aber er ist nicht der Mann, der solche Situationen zu seinen Gunsten nützt. Dreißig Minuten lang schlägt er dem Mob seinen Zorn um die Ohren, verschwindet dann gruß- und zugabenlos und läßt eine schäumende Menge zurück, die jetzt endgültig nicht mehr zu halten ist. Fliesen, Stangen und Bretter werden von der Decke und den Wänden gerissen, Stühle zerlegt und die gesamte Einrichtung samt Bühne buchstäblich zu Klump geschlagen. Durch einen Hinterausgang entkommt die Suicide-Entourage, quetscht sich in einen gemieteten Sportwagen und flieht, während aus allen Richtungen die Ordnungskräfte mit Schlagstöcken und Tränengaskanistern anrücken. Stunden später, in einem verlassenen Bistro am Stadtrand, werden die Ereignisse rekapituliert, und als Howard Thompson, der Suicide ihren britischen Plattenvertrag mit Bronze Records verschafft hat, verkündet, daß er das Konzert auf Kassette mitgeschnitten hat, sind sich alle einig, daß die Aufnahme veröffentlicht werden muß. Sie wird – zunächst auf Flexi-Disc, später auch auf CD – unter dem Titel „23 Minutes Over Brussels“ zum ikonischen Klassiker: das authentische Dokument einer Konfrontation zwischen Morgen und Gestern.
Es war nicht das letzte Mal, daß Suicide derartiges erlebten. Über einen Auftritt im Vorprogramm der Cars im Universal Amphitheatre in Los Angeles erzählte Alan Vega später dem ehemaligen Sonic-Youth-Trommler Bob Bert: „Der Lärm von fünfzehntausend Leuten war wie eine monströse Woge, die uns überschwemmt hat wie nichts, was man je gehört hat.“ Cars-Kopf Ric Ocasek revanchierte sich, indem er das (wesentlich zugänglichere) zweite Suicide-Album produzierte. Für einen Moment erwachte da sogar das Interesse der Plattenindustrie: Als das Album fertig war, versammelten sich diverse A&R-Figuren von Arista Records und der zufällig anwesende Bruce Springsteen zum Probehören. Springsteen war so beeindruckt, daß er vor der versammelten Industriemeute auf Alan Vega zuging und ihn wortlos umarmte, mit Tränen in den Augen. Aus dem Deal wurde nichts.
In dem großen Aufbruch, der Ende der Siebziger die Popwelt erschütterte, waren und blieben Alan Vega und Martin Rev, die bis heute als Solokünstler, mit diversen Projekten und sporadisch auch gemeinsam (zuletzt diesen Herbst auf „American Supreme“) aktiv sind, einsame Vorreiter – fragt sich nur, für was, denn während Punk, New Wave und Power Pop sich in Nullkommanichts in Flächenbrände verwandelten, blieb Suicides enigmatisches, brisantes Erbe zunächst unangetastet liegen. Erst in den Achtzigern erkannten Synthduos und Bands wie Soft Cell, Chemical Brothers, The Orb, Depeche Mode, Human League, Sigue Sigue Sputnik, The Jesus & Mary Chain, Nine Inch Nails, Prodigy und die keimende Technoszene, welch ungeheures Potential in den extrem reduzierten Attacken auf praktisch jede Poptradition lag. Die Wirkung von Suicide aber blieb unerreicht, und ob es ihren Epigonen gelungen ist, daraus Bleibendes zu schöpfen, oder ob dereinst Klassiker wie „Ghost Rider“ und „Rocket USA“ als einsame schwarze Türme über Wüsten der Vergessenheit ragen, werden wir erst in vielen Jahren wissen. „Wir träumten davon, die Welt zu verändern“, schrieb Red-Star-„Informationsminister“ Roy Trakin (der in Brüssel neben dem Aufnahmegerät saß) später. „Und dann bemerkten wir nicht, daß wir sie verändert hatten.“
„Suicide is not about alienation but about hope. They are not robotic monsters intent on leveling civilization and culture. Suicide will outlast each trend because they are the real thing – unique and experimental, yet totally accessible and in line with the tradition of rock and roll. Suicide is Alan Vega’s vulnerability and cock-eyed pessimism/optimism as it is Martin Rev’s stoical mask hiding a sense of humor and humility that is inspiring as it is heartbreaking.“ (Roy Trakin)
(Dieser Text entstand im November 2002 für den Musikexpreß (auf Grundlage einer älteren Plattenkritik, die vor 2000 im WOM-Journal erschienen war). Alan Vega starb am 16. Juni 2016 – auf den Tag genau 38 Jahre nach dem beschriebenen Auftritt im Jahre 1978 – im Alter von 78 Jahren.)
In seinem Buch „Songbook“ stellt Nick Hornby, wenn ich mich recht entsinne, Springsteens „Thunder Road“ und anderes optimistisches Liedgut etwa des auch von mir geschätzten Teenage Fanclubs Suicides „Frankie Teardrop“ gegenüber. Letzteres brauche er nicht.
Springsteen, damals in Deutschland von den meinungsbildenden Autorinnen und Autoren der SPEX völlig verkannt, sah das in der Tat anders, siehe bzw. höre auch „State Trooper“.
Danke. Ich fürchte, ich muss mir den berüchtigten Live-Mitschnitt aus Brüssel doch einmal anhören.
Springsteen coverte außerdem „Dream Baby Dream“. Luna setzten dem Konzert in Brüssel hier ein aurales Denkmal (mit Tom Verlaine an der Gitarre):
https://www.youtube.com/watch?v=VDkY3NCGxK8
Schön wars. Dann mal wieder zurück zu Rockets USA, Rockets UK, Rockets France und Rockets Germany.