(Aus dem tiefen Archiv:) Belästigungen 26/2009: Ein Vorschlag zur Güte an die protestierenden Studenten (und ihre Gegner)

Eine Frau Wintermantel, die so etwas wie die oberste Verwaltungsverwalterin der deutschen Universitäten ist, hat erklärt: „Auf den Arbeitsmärkten wächst die Akzeptanz der Bachelor- und Masterabsolventen.“ Das, meint sie, sei ein Erfolg.

Ja, es ist ein Erfolg, und zwar für die Bemühungen um Durchsetzung einer vollkommenen geistigen Verwirrung in bezug auf das, was man in Europa unter „Bildung“ versteht. „Bildung“ ist für Leute wie Wintermantel nichts anderes und nicht mehr als ein Arsenal von Techniken und Fertigkeiten, die der Mensch braucht, um als Arbeitskraft eingesetzt werden zu können.

Idealtypisch verkörpert ist diese Ideologie in der ebenfalls höchst erfolgreichen Durchsetzung der „Wirtschaftswissenschaften“, im engeren Sinne der Betriebswirtschaftslehre (die nicht umsonst „Lehre“ heißt), als Leitdisziplin aller akademischen Zweige und Richtungen. Niemand traut sich mehr zu fragen, was diese Schulung in den Dogmen, im Katechismus der Geldreligion an einer Universität zu suchen hat, seit mehr Menschen BWL „studieren“ als irgendein anderes Fach, seit Menschen Dingsbumsklimbim wie „Sporteventmarketing“ für akademisch halten, so etwas den Künsten, der Literatur, den Sprachen, der Philosophie, Musik, Historiographie etc. gleichsetzen, ohne sich totzulachen, und meinen, man könne diese ebenso in ein paar Jahren wie in einer Schule „lernen“ und den Lernerfolg mit einem „Bachelor“-Abschluß nachweisen, um dann schnurstracks loszustarten und sich verwerten zu lassen.

Um das klarzustellen: Es ist völlig verständlich und im Sinne der kapitalistischen Logik zwangsläufig, daß Firmen und Konzerne möglichst gut ausgebildete Arbeitskräfte haben möchten. Aber uns (alle), als Gesellschaft, geht das überhaupt nichts an. Wenn jemand Menschenmaterial zum Ausbeuten braucht, soll er sich das gefälligst selbst heranziehen. Oder sagen wir’s ein bißchen milder: Wer ein Studium als Ausbildung (zum Ausüben eines Berufs) begreift, der ist ein Auszubildender und kein Student (und darf sich deshalb nach Ende seiner Ausbildung gerne „Meister“ nennen, wie das in anständigen Berufen ja seit langem üblich ist – wohingegen der Titel „Bachelor“ „Junggeselle“ heißt und nicht mehr ist als ein Beleg für die schreiende Lächerlichkeit der ganzen skandalösen „Reform“).

Das meine ich nicht im geringsten überheblich; es ist nur eine absolut notwendige Abgrenzung. Ein Studium hat keinen „Zweck“ und per se auch kein Ziel, nur das, sich zu bilden, um kritisch denken, reflektieren, sich äußern und andere Menschen anregen und lehren zu können. Das wiederum geht die Industrie, den Handel und andere Gewerbe nichts an, im Gegenteil: Es läuft ihren Interessen im Normalfall zuwider. Deshalb gehen sie dagegen vor, indem sie sich die Universitäten unter den Nagel reißen, sie zu Berufsschulen umbauen und mit Depperldisziplinen überschwemmen, die man möglichst gut kontrollieren, normieren und zur Heranziehung von arbeitsfähigem Humanmaterial nutzen kann.

Der derzeitige Konflikt an den Universitäten wäre also ganz einfach zu lösen: durch die Gründung neuer, staatlicher Institute, die ausschließlich für die zugänglich sind, die studieren wollen. Solche Menschen brauchen wir alle, als Gesellschaft, deshalb sollte ihr Studium selbstverständlich kostenlos sein; man könnte ihnen auch eine Art Bildungsgehalt zahlen, damit sie sich geistig betätigen können und nicht gezwungen sind, nebenbei zu arbeiten. Die derzeitigen „Hochschulen“ kann man dann der Wirtschaft übergeben, damit sie sie nach Belieben zur Ausbildung von Arbeitskräften nutzt.

Dafür gibt es selbstverständlich keinen einzigen Cent vom Staat. Wenn die Wirtschaft eine möglichst gut verwertbare Ausbildung möchte, soll sie selbst dafür aufkommen – sie steckt ja hinterher auch die Profite ein. Daß sie diese an den Börsen verklappt und dafür die Regierungen Studiengebühren kassieren läßt, daß selbige Regierungen die Studiengebühren dann dafür mißbrauchen, die Steuern für Großverdiener zu senken, und andererseits ein bürokratisches Monstrum wie die Bafög-Behörden schaffen, um per Almosen, Leihgabe und Augenwischerei den Eindruck zu erwecken, ihnen sei daran gelegen, Kindern anderer Klassen als der der Besitzenden und Bestimmenden ein Studium oder wenigstens eine elitemäßige Berufsausbildung zu ermöglichen, macht den ganzen Circus vollends zur Farce.

Der Konflikt an den und um die Universitäten, der sich derzeit endlich und vollkommen legitim in Demonstrationen, Besetzungen und anderem entlädt (und dies hoffentlich weiterhin tun wird), hat also über den Vordergrund hinaus nicht das geringste mit „Bachelor“, „Master“ und anderem Bologna-Pipifax zu tun, auch nicht mit minimalen Erhöhungen der Bafög-Almosen und der (selbstverständlich absolut notwendigen) Abschaffung der Studiengebühren.

Wer damit nicht einverstanden ist, dem wird es auf die Dauer nichts helfen, zu fordern, die Heizung aufzudrehen, nachdem die Hauswände eingerissen worden sind. Mag sein, daß es davon in der Ruine vorübergehend ein bißchen wärmer wird – aber nur so lange, bis der letzte Brennstoff verbraucht ist.

Anders gesagt: Wer nicht damit einverstanden ist, daß wirkliche Bildung und kritisches Denken vollständig aus Europa verschwinden und ersetzt werden durch eine totale Ökonomisierung des menschlichen Lebens, der wird früher oder später nicht darum herumkommen, die Systemfrage zu stellen. Und die lautet: Wie wollen wir leben? Oder, erst einmal: Wollen wir wirklich weiterhin und immer noch radikaler so „leben“? Und: Wer hat eigentlich bestimmt, daß wir so leben müssen, und wer profitiert davon?

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Seitdem kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, verboten sind. Daher gibt es die „Belästigungen“ bis auf weiteres nur hier (und auf der In-München-Seite). (Diese Folge stammt aus dem November 2009.)

Kommentar verfassen