Belästigungen 25/2020: Warum es die Welt nicht geben kann, wenn es uns nicht gibt

Ob es die Welt gibt, ist eine Frage, an der sich die Wissenschaft die Zähne ausbeißt. Der Philosoph stellt fest: Alles, was es gibt, unterscheidet sich von anderen Dingen; und so schließt er in fachüblicher Messerschärfe: Also kann es die Welt nicht geben, denn von was sollte sie sich unterscheiden? Und wie?

Der Naturwissenschaftler kündet in ebenfalls disziplinspezifischer Schärfe, alles, was es gebe, gebe es auch, und da die Welt nun einmal da sei, sei sie auch da, also gebe es sie. Dann packt er seine Meßgeräte aus, mißt alles, was zu messen ist, und konstatiert: Das ist sie, die Welt! Den sophistischen Einwand, er habe vergessen, seine Meßgeräte zu messen – gehören die also nicht zur Welt? kontert er, indem er den Mathematiker hinzuzieht und ihn eine feinsinnige Formel formulieren läßt, der zufolge das, was mißt, zwar die Messung geisterhaft beeinflußt, dennoch aber sozusagen implizit mitgemessen wird, also ebenfalls existiert und in einem weiteren Sinne zum Gemessenen dazuzuzählen ist.

Nun erklärt ihm der Philosoph, daß er offenbar nicht imstande ist, ein Meßgerät für die mathematische Formel zu bauen, sondern deren Ergebnisse immer nur teilweise bestätigen kann, ihr also hinterherhinkt, und außerdem die zweifellos existente Idee, es gebe etwas, was man überhaupt nicht messen könne (als logischen Gegensatz zu allem, was man messen kann), eben gerade nicht vermessen könne. Die Behauptung weiterhin, all das gehöre ebenfalls zur Welt, ebenso wie der aufmüpfige Geist, der so etwas behaupte, führe vollends ins Dilemma, weil man wieder bei der Ausgangsfrage lande: Wenn alles, was es gibt, zur Welt gehört, wodurch unterscheidet sich die Welt dann von allem, was zu ihr gehört?

Zum Glück haben auch der Philosoph und der Naturwissenschaftler irgendwann Feierabend. Dann stehen sie wie alle anderen da und fragen sich: Was tun?

Oder nein: Die meisten fragen sich das gar nicht. Sie tun, was sie nach der täglichen Ausbeutungsschicht zu tun gewohnt sind: ein paar Fitneßbewegungen absolvieren, eine Packung Nahrung einnehmen, Glotze an und die „Welt“ betrachten. Diese Welt, die sie da sehen, unterscheidet sich tatsächlich kaum, schon gar nicht von dem, was sie morgens auf dem Weg zur Ausbeutungsschicht bereits in Zeitungen und deren digitalen Surrogaten gesehen haben: Im wesentlichen besteht sie aus drei mittelalten Männern, die offensichtlich gerne noch immer die Oberstufen-Nerds wären, die sie vor zwanzig, dreißig bzw. vierzig Jahren wahrscheinlich waren, und deswegen aussehen wie etwas verwahrloste Ausgaben der pickeligen, am PC festgeschraubten Bleichköpfe, die man als lebensfroher Mensch damals lieber mied. Plus einer Kanzlerin, die mittlerweile auch jeder auswendig kennt, zuzüglich etwas Begleitmaterial in Form diverser Finanz- und Großindustriekarpfen, der üblichen „Entscheidungsträger“ und Elitenführer, die dem glotzenden Feierabendler vorbeten, was die Eckpunkte menschlichen Vegetierens in den nächsten hundert Jahren sind.

Der eine oder andere (der noch denken kann) denkt dann: Da war doch noch was, außer oder sogar statt Drosten, Spahn, Lauterbach und dem allgegenwärtigen Maßregelungs-, Statistik- und Faktengequake, statt den gruseligen Drohtiraden des bayerischen Oberführers, den mißmutig leiernden Handlungsanweisungen von Frau Merkel, dem hilflosen Gestammel aus dem Mund des Tierarztes der Nation. Etwas, wofür man bisweilen sogar bereit war, zeitweilig das aufs Spiel zu setzen, was heute als alleroberstes Volksgut gilt: die „Gesundheit“ (d. h. Arbeitsfähigkeit), indem man ein, zwei Tage im Bett gammelte, um sich zu erholen. Was war das nur?

Richtig: Es war das Leben! Wo ist das hin? Was tun wir statt dessen? Und vor allem: warum tun wir es?

Ja mei. Wir warten. Im Grunde warten wir nur auf das Kind, das durch die Straßen rennt und verkündet, die Beamtenkaiserin, der Brillengouda, der betüdelte Tatterer, der selbstzufriedene Streber, der Charité-latan und der Viehdoktor – die seien alle nackt oder (wenn wir uns mit Grausen wenden und die Fensterläden bei dieser Vorstellung gleich noch fester verriegeln wollen) vielmehr gebe es sie gar nicht; sie seien allesamt und samt all ihren Nebenchimären und „Young Leaders“ aus den düsteren Unterweltreichen von WEF, ACG, „Friends of Europe“, Atlantikbrücke, Bilderberg, Trilateraler Kommission, Springer, Bertelsmann und den anderen wuchernden Stiftungssekten überhaupt nicht existent, sondern lediglich Gespinst und Ausgeburt diverser Infotrichter, also letztlich ihrer selbst.

Und da erinnern wir uns mit noch zögerndem, aber schon ansteckenden Lächeln, daß wir das ja alles mal wußten. Als wir noch lebten, dort draußen, in den Kneipen, Clubs, Theatern und Bars, den Biergärten, Discos, Beizen und Pop-up-Schuppen, Parks, Straßen, Plätzen und Treffpunkten, mit und unter Mitmenschen, bei und unter Freunden, Kumpels, verschworenen Gleichgesinnten und ganz weit weg von denen, die uns jetzt kasteien möchten. Wir: waren WIR, gemeinsam, angstlos und frei.

Und da denken wir auch an ein Heft, in dem all das stand, was da passierte, und noch viel mehr, und das auf jeder Bar, jedem Tresen, jedem Küchentisch, jedem WG-Klo lag, zwischendurch auf mysteriöse Weise mit den Stätten unseres Lebens verschwunden ist in die virtuelle Viertelwelt und jetzt endlich wieder da ist.

Vorläufig nur einmal. Aber dabei wird es nicht bleiben. Weil es die Welt wieder geben muß, damit sie sich von dem unterscheiden kann, was man uns seit neun Monaten statt ihrer vorsetzt.

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Seitdem konnte das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die meisten Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, wegen ihres „Vergnügungs“-Charakters verboten wurden. Diese Folge erschien am 10. Dezember 2020 in einem außerordentlichen Sonderheft.

Eine Antwort auf „Belästigungen 25/2020: Warum es die Welt nicht geben kann, wenn es uns nicht gibt“

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