Ohne Bühne … gibt es nichts (auch keine Literatur).

Zwei Riesenräder drehten sich diesen Sommer, am Königsplatz und im Olympiagelände, zwei der unwirtlichsten Plätze in dieser Stadt, die sich seit Jahrzehnten solche Mühe gibt, ein unwirtlicher Ort zu sein für Arbeitsnomaden ohne Muse, ohne Freigeist und Hintersinn. Die Riesenräder hat man den Münchnern hingestellt, ein paar Fahrgeschäfte, Würstchen- und Zuckerbuden dazu, weil wohl jemand dachte: Ein bißchen Kultur braucht der Mensch in Zeiten des Lockdowns, sonst geht er ein; und das sei doch eine Kultur, wie sie gerne genommen wird. Hauptsache bunt, laut und versalzen. Da kann man sich vergessen, ein paar Stunden lang, bevor es wieder hinausgeht ins falsche Leben zwischen Arbeitsplatz und Fernseher.

Diese Art Kultur gab es schon, als wir 2007 auf die Idee kamen, eine Lesebühne zu gründen, jeden Sonntag unsere Texte hinauszutragen aus der gewohnten Schreibstube, vor biertrinkende, erwartungsvolle Menschen, die etwas anderes von Literatur wollten als die Lesungen, die es damals auch schon gab: wo sich literaturbetrieblich fest eingeschwägerte Autoren, die auf Bühnen so viel verloren haben wie der Hausmeister bei einem Punkrockkonzert, vor ein Glas Wasser setzen, Passagen aus einem aktuellen Kriminalroman verlesen, ein paar launige Fragen zu ihrem Alltag beantworten und zwanzig Euro Eintritt nehmen. Da könnte man auch das Buch auf den Tisch legen und Eintritt dafür verlangen, daß jeder es berühren und ein bißchen darin blättern darf.

Das wollten wir ganz anders machen, ohne gleich zu wissen, wie. Poetry-Slams gab es ja ebenfalls schon, da herrschte bei allem ursprünglichem Charme der Mischung aus Verständigungstext und Comedy der neoliberale Ungeist von Leistungszwang und Wettbewerb, den wir auch nicht wollten, weil er keinen Platz läßt für stillen Witz und poetische Träumereien, für Texte, Ideen und Lieder, deren Tiefen sich vor Publikum wandeln, zu Untiefen werden (oder umgekehrt), in denen man planschen und treiben kann, in denen sich das unfaßbare Leben niederschlägt und spiegelt, seinen Ernst verliert und nackt dasteht.

Literatur auf der Bühne: das ist weithin ein großes Mißverständnis. Da sollte man nicht vergessen, daß Literatur als Erzählung der Welt nicht mit der Schrift begann. Entstanden ist sie mündlich, indem sich jemand hinstellte und mitteilte, was seine Sinne, sein Gedächtnis und sein Hirn und Herz über den Kosmos, der uns alle umschwirrt, begriffen hatte. Solche Geschichten, solche Texte, entstehen erst richtig, indem man sie erzählt und jemand zuhört und reagiert. So ging es uns auch: Schreiben, stellten wir fest, kann irgendwie jeder, aber so erzählen, daß es etwas bewirkt, das muß man lernen, und das geht nur mitten in der Menge, die lacht und erschrickt und schreit und weint und auch mal schweigt, aus guten Gründen.

Freilich: Man kann Autoren wie Volker Keidel, Friedrich Ani und Frank Klötgen (drei zufällig ausgewählte unserer vielen Lieblingsgäste) auch in Ruhe lesen, ihre Bücher, daheim in der Badewanne oder auf dem Sofa. Es ist aber etwas ganz anderes, sie zu erleben. Zu sehen und zu hören, wie sie mit Witz, Irrwitz, Absurdität ihrer Texte ringen, einen oder vier Meter vor einem greifbar auf der Bühne, während andere danebensitzen, lachen und hineinreden und das Ganze erst so richtig lebendig machen. Lebendig wie die Stadt, in der selbst der moderne Arbeitsnomade in solchen Momenten plötzlich doch fast zu Hause ist. Lebendig wie das Viertel, die kleine Straße hinter der Münchner Freiheit, wo die einzige Kneipe der ganzen Welt, in der so etwas möglich ist, ihr unveräußerliches Zuhause hat: das „Vereinsheim“, das sich allen Anmaßungen und Zumutungen der rasenden Realwelt seit bald fünfzehn Jahren so tapfer erwehrt, daß man es für einen parallelen Kosmos halten mag.

Die Riesenräder, die an unserer Stelle Kultur und Freude verbreiten sollten, liefen übrigens meistens leer, nicht nur bei Sturm und Regen. Vielleicht hat es einen Grund, daß unsere Lesebühne früher genau in den zwei Wochen still lag, wenn der OB mit dem Kommando „Ozapft is!“ eine ganz andere, hegemoniale Kultur ankündigte, die genau besehen auch nichts anderes ist als eine Übersetzung der Rush-hour auf dem Mittleren Ring in Maßkrug, Hendl und Brüllgesang (wobei Moses Wolff hier entschieden anderer Meinung ist!).

Ja, sie fehlt uns, diese einzigartige Bühne, die unser Leben ist, längst. Und längst nicht nur unseres.

geschrieben im November 2020 für die Süddeutsche Zeitung, dort am 27. November gekürzt erschienen

2 Antworten auf „Ohne Bühne … gibt es nichts (auch keine Literatur).“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert