Frisch gepreßt #416: Ry Cooder „Prodigal Son“

Regieanweisung: Straßenstaubwolken, Horizont (leuchtend, verschummert), diffuses Sonnenlicht, am rechten Bildrand ein einsamer Kaktus; von links Auftritt eines freundlichen älteren Mannes, der irgendwie nicht recht in die Szenerie paßt. Sprecherstimme aus dem Off.

Wir leben im Zeitalter der Jubiläen. Fast alles, was kulturell gegenwärtig von „Bedeutung“ ist, hat dreißig, fünfzig, manchmal hundert Jahre auf dem Buckel und führt eine Doppelexistenz in Museen und (weil wir hier bei Musik sind) Charts. Da kann schon mal was untergehen, vor allem wenn das Datum der
gewinnträchtigen Anniversierung nicht so ganz klar ist.

Zum Beispiel das musikalische Schaffen und Wirken von Ryland Peter Cooder, gut 71 Jahre alt: Das fing offizieller Datierung zufolge damit an, daß er vor 51 Jahren auf Captain Beefhearts Debütalbum „Safe As Milk“ Gitarre, Baß und einiges Schepperlzeug spielte. Damals gab es noch Neues, etwa Cooders Idee, seine Gitarre wie ein Banjo zu stimmen und zu spielen – dafür gibt es heute Youtube-Tutorials. Daß Beefheart und mit ihm Cooder damals seiner Zeit ein gutes Stück voraus war, mag man daraus schließen, daß das Album wie ein Steinklotz in den Ladenregalen lag, aber auf die Dauer nicht etwa unterging, sondern die seltsamsten Bewunderer fand, von den Beatles über Sonic Youth und The Kills (die Songs davon coverten) bis hin zur Verfilmung von Nick Hornbys generationsbildendem Roman „High Fidelity“, in der sich Barry hartnäckig weigert, die Platte an unwürdige Kunden zu verkaufen.

1970 spielte Cooder auf Randy Newmans „12 Songs“, irgendwann nicht lang davor auf „Love In Vain“ und „Sister Morphine“ mit den Rolling Stones und zwischendurch mit allen möglichen Leuten. Er sammelte uralte, vergessene Platten und Bänder, eignete sich Spielweisen und Stilschattierungen an, die jahrzehntelang vergessen waren, und wurde so selber zu einer Art Museum, dessen bewahrende und vitalisierende Tätigkeit ihm vor 46 Jahren mit „Into The Purple Valley“ selbst eine Art Klassiker bescherte.

Nun wird der Platz schon knapp. Cooders Museum eröffnete neue Flügel, nahm Blues, hawaiianische Folklore, Tex Mex auf, hängte weitere Portraits in die Ehrengalerie (Van Morrison, Gabby Pahinui, Judy Collins, Gordon Lightfoot, Beach Boys u. v. a.) und hatte die semipopuläre Musik (nicht nur) der USA bald so infiltriert, daß man Cooder-Alben aufs erste Hören erkannte, auch wenn sein Name nicht mal kleingedruckt auf der Rückseite stand.

Hinzu kamen wahre Massen an Filmsoundtracks: „Paris, Texas“ (Wim Wenders) mag der bekannteste sein (wobei Cooder u. a. entdeckte, daß die Wüste singt, und zwar in Es-moll), „Last Man Standing“ der größte (kommerzielle) Reinfall, „Crossroads“ der persönlichste (wg. Robert Johnson). Mit V. M. Bhatt („A Meeting By The River“, 1993) und vor allem Ali Farka Toure („Talking Timbuktu“, 1995) lieferte er gültig bleibende Eckpfeiler unpeinlicher und nichtexploitativer Weltmusik und erntete zwei Grammys, produzierte 1997 den kubanischen Veteranenverein Buena Vista Social Club, was ihm 25.000 Dollar Strafe wegen Embargobruch wert war. Und, freilich, einen weiteren Klassiker lieferte. Und so: (eben) weiter.

Harter Schnitt, Gegenwart. Kann sich jemand an termingerechte Jubiläumsfeiern zu einem der erwähnten Meilensteine erinnern? Weltweite Feierlichkeiten zu Ry Cooders 70. Geburtstag? An irgendwas (außer dem etwas kläglichen „Lifetime Achievement Award“ bei den BBC-Radio-2-Folk-Preisen 2017)?

Gut so, möchte man sagen. Menschen sterben irgendwie, wenn es ihnen zu viel von dem Zeug draufhagelt. Ry Cooder hingegen spielt einfach weiter, verzichtet auf seinem ersten eigenen Album seit sechs Jahren auf Novitäten und gräbt vielmehr nach tiefen Pfahlwurzeln im spröden Grund des Wilderen US-Südens: Blind Willie Johnson (1897-1945) und Blind Roosevelt Graves (1909-1962) sind Werkzeug und Frucht zugleich (daß Cooder selbst ein Glasauge trägt, seit er vier ist, weil er sich, wie es hieß, „versehentlich“ ein Messer ins Auge rammte, sei nur anekdotisch erwähnt). Die Songs sind derart traditionell, daß man sie „schon immer“ zu kennen glaubt, die Arrangements reichen von supereingängigem 70er-Stones-Rock im Titelsong über ein Kaleidoskop von Anwehungen aus allen Himmelsrichtungen bis hin zum ganz knorrigen Urblues in „Nobody‘s Fault But Mine“ (einst von Led Zeppelin geklaut, vielleicht daher die an „Kashmir“ erinnernden Streicherfragmente).

Wichtig: Cooders Stimme, absolut unmanieriert; ein gelassener, onkelhafter Geschichtenerzähler, der nichts zu verkörpern versuchen muß, weil er alles ist.
Abspann: alter Mann geht nach links davon, langsam sinkt die Sonne, Horizont bleibt.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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