Frisch gepreßt #412: Murs „A Strange Journey Into The Unimaginable

Am Küchentisch heißt es: „Hä? Wir haben doch schon ein Hip-Hop-Album im Haus! Wozu noch eins, es ist Frühling! Da hört man sich doch nichts an, was heuer so klingt wie letztes Jahr und letztes Jahr wie 1996!“

Aber der nettmenschliche Einwandsfluß versiegt sehr bald und weicht einem mindestens milden Staunen. Zwar ist der thematische Rahmen, in dem sich Nicolas Carter alias Murs (was alles mögliche heißen kann oder soll, fragen wir nicht näher nach) auf seinem ungefähr elften Solo- und mindestens 22. Album insgesamt bewegt, so streng gezimmert, wie er das im klassischen Hip Hop (das heißt: jen- oder vielmehr diesseits vom Karnevalstralala) halt mal ist: Es geht um Weiber (böse und scharfe), Bullen, Knarren, das Ghetto, ums Rappen und wer darin der beste ist (immer der, der spricht, die anderen wollen nur Kohle), am Ende freilich um den lieben Gott; und es geht darum, daß man stark sein muß und sich nicht unterkriegen lassen darf und das auch keinesfalls tun wird, sondern jeden wegballern wird, der sich einem in den Weg stellt, und daß man sich ansonsten spirituell versöhnen und gemeinsam stark sein und die Macht bekämpfen muß und so Sachen halt …

„Hey, hast du gewußt, daß der Typ mal 24 Stunden am Stück gerappt hat und deswegen im Guinness-Buch der Rekorde steht? Putzig!“

Bitte was? Ach so, ja. Wenn und während man einem wie Murs zuhört, kann man schon mal selbst in einen Redestrom hineingeraten, der sich Gott sei Dank aber nicht reimt und sowieso nur ungefähre Paraphrase ist, weil: Murs schon ziemlich viel Phantasie und (im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Kollegen) eine enorme Rhythmus- und Reimsicherheit aufzubieten hat, wenn er den altbekannten Teig knetet, der deshalb durchaus frisch und originell und trotzdem rundum klassisch daherkommt, vielleicht so wie die sagenumwobene Pizza, von der kulinarische Flachnasen stets aufs Neue mit voller Überzeugung behaupten, sie sei mit Sicherheit „die beste der Stadt“ oder „Welt“, obwohl sie immer aus dem gleichen Zeug besteht und man sich schon gewaltig anstrengen muß, damit sie wirklich mal anders schmeckt als die davor und danach.

„Jetzt sei nicht so gemein! Zum Beispiel sind Hip-Hopper und Dreadlockträger ziemlich gerne mal ziemlich homophob, und der hier setzt sich für Schwulenrechte ein!“

Stimmt, ist aber egal. Auch nicht so suuuperwichtig, daß Murs (auch) auf diesem Album mindestens zweimal einen gewaltigen Luftsprung aus dem Themeneintopf macht: mit dem anrührend wundervoll nüchtern-traurigen „Melancholy“, in dem er ganz ohne Pose und Metapher von seiner jahrelangen, mittlerweile überwundenen Depression erzählt („Just paid for a shrink but she made me think / That the problem’s all in my head / So with that said, I went solo / On my own tryna face my fears / I stopped, popped a pill, and it all got real / So I started writing this right here / And it took me years to get to this point / Where I don’t wanna die every day / You can’t put it in your mind to be down all the time / ‚cause the sun go shine anyway“). Und mit der ebenso, aber ganz anders anrührenden „Superhero Pool Party“, einer Gutenachtgeschichte für Murs‘ Adoptivsohn (mit anschließender Kurzdiskussion über Spiderman).
„Huch, ist das alles persönlich! Da geht‘s ja auch um seine Scheidung und um sein tot geborenes Kind! Weia, jetzt werd‘ ich traurig!“

Aber wichtig ist gerade das: daß Murs alles, was er erzählt (von der Depression über die Marvel-Helden bis hin zur Slapstick-Anekdote „A Lean Story“), aus seinem eigenen Leben schöpft und eben nicht einfach nur irgendwas hinblafft. Und daß er den musikalischen Bogen so weit spannt, wie es nur geht (klassische Hip-Hop-Zutaten wie Beats, Schnitte, Samples, Störgeräusche, Gäste, dazu Schlagzeug, Akustikgitarren, Klavier, Bläser …), aber nichts davon bloß Schnickschnack und Hey-nicht-einschlafen-Bombastik-Buff-Gembömbel ist, sondern – und das ist selbst im Underground-Hip-Hop selten – alles im Dienste des Songs (!) steht.

„Okay, ich geb‘s zu: Ich mag Hip Hop nicht. Aber diese Platte mag ich. Sehr!“
Gut, dann holen wir mal wieder den Uraltsatz aus dem Staubschrank. Werte Hip-Hop-Nichtmöger: es kann nicht schaden, sich doch eine einzige Hip-Hop-Platte ins Haus zu stellen. Und es dürfte gerne diese sein.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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