Belästigungen 11/2018: Liebe Einzelsocken, singt das Loblied der Langeweile!

Schlimm an der Welt ist zum Beispiel, daß immer das, was man braucht, gerade nicht da ist. Damit meine ich nicht Geld. Das ist ja immer da, in ungeheuren Mengen sogar. Man kann bloß nichts damit anfangen, weil es angeblich irgend jemandem gehört (was es theoretisch gar nicht kann, aber das wollen wir heute mal vergessen).

Eher, aber nicht unbedingt konkret, meine ich die sprichwörtliche Spezies Socke, die man als Geschwisterpaar in die Waschmaschine hineinstopft und im sprichwörtlichen Regelfall einzeln wieder herauszieht – und zwar nur eine davon. Die andere bleibt verschwunden, bis sie Wochen später nach einem anderen Waschgang wieder auftaucht. Dann ist aber entweder die erste mittlerweile abgetaucht oder entsorgt, oder die beiden sehen sich aufgrund unergründlicher Vorgänge so wenig ähnlich, daß sie nicht mehr gemeinsam zum Einsatz kommen können.

So werden – ich kann das beweisen! – aus fünfzig Paar Socken hundert Einzelsocken, bei deren Anblick in der überfüllten Schublade ich immer ein bißchen melancholisch werde, weil sie da so nutzlos vor sich hinwesen und man sie weder wegschmeißen (sind ja noch gut) noch für etwas Sinnvolles gebrauchen kann (außer indem man sie zu fensterbrettbreiten Wollschlangen zusammenkniedelt, die im Winter vor Bodenfrost im Zimmer schützen – aber die Zahl der Fenster hat halt auch ihre Grenzen).

Die Melancholie ist eine übertragene, weil sie sich in Wahrheit auf Menschen bezieht. Menschen, die vor allem jetzt im späten Frühling und frühen Sommer so ähnlich wie Einzelsocken ohne Schublade in der Welt herumflattern. Dabei haben sie, erinnert man sich, doch gerade noch als Paare sozusagen ihren Stiefel durchgezogen durch den Winter, man wähnte sie zufrieden. Jetzt erzählen die solitären Menschensocken, wenn man sie fragt, die üblichen Standardgeschichten: „auseinandergelebt“, „Selbstverwirklichung“, „andere Pläne“, „unterschiedliche Interessen“, „neue Ziele“.

Lustig – auf eine traurige Weise – ist daran, daß es erfahrungsgemäß nicht lange dauert, bis ein scheinbar ähnlich gemustertes Exemplar gefunden ist und der Durchlauf durch das moderne Kaufhaus der Begehrlichkeiten von neuem beginnt: Man hat wahnsinnig tollen Sex, strahlt im Einklang und entdeckt eine schier unüberschaubare Palette an gemeinsamen Konsuminteressen, die das Leben spannend, aufregend, zu einem einzigen Abenteuerurlaub machen.

Frische Menschensockenpaare fliegen mit Stoffdrachen durch Bergtäler, strampeln sich synchron an Science-Fiction-Gymnastikgeräten ab, kochen in hypermodernen Geräteküchen die „Highlights“ sämtlicher Weltkochkulturen durch (wofür man im Normalfall erstaunlicherweise nur Weizenmehl, Industriefleisch, Rapsöl, Sahne und ein paar exotische Gemüsestreusel braucht, die gerne mal am Tellerrand liegenbleiben), vereinen ihren Energiefluß durch vermeintlich fernöstliche Betätigungen und entdecken immer neue gemeinsame Lieblingsfilme, -bücher, -spiele. Dabei entwickeln sie sich ununterbrochen weiter und verwirklichen sich in einem schwindelerregenden Dauerakkord selbst: „Erst durch ihn habe ich meine Potentiale entdeckt!“ – „Sie gibt mir den Rückhalt für bla bla!“.

Das kann logischerweise nicht lange gutgehen, und wenn es nicht mehr ganz so gut geht, kommt notfalls noch ein Kind ins Spiel. Allerspätestens dann hat der Spaß ein Loch. Der Sex wird fad, auch wenn man ihn in gewohnter Intensivierungsmanier fünfmal täglich betreibt, alle möglichen Stellungsratgeber und sonstige Verbesserungsliteratur studiert und endlich den verflogenen Reiz mit Gruppensex und Swingerclubs neu anzufachen versucht. Spannung und Aufregung verpuffen in der Wiederholung nicht mehr zu steigernder Eskapaden; danach hängt man erschöpft vor der Glotze, mampft Fertigpizza, stellt lustlos Pläne für die nächsten Wochenenden zusammen, wischt (falls der Notfall schon eingetreten ist) Babykotze auf.

Positiv betrachtet: kann man ja auch mal kuscheln statt zwanghaft olympisch zu rammeln (oder das halt in Gottes Namen mit jemand anderem tun); man kann ein Buch lesen, Brot und Käse essen, müßig in der Sonne gammeln, träumen, sich erinnern, schweigend die Welt kontemplieren. Das geht alleine, aber viel besser geht es zu zweit. Es ist weitaus erfüllender und beglückender als der hundertste Extremsportkurztrip und Wellness-Resorturlaub. Es erspart jegliches Streben nach vermeintlichen „Zielen“, jegliches Mühen um Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung, weil das, was an deren Ende angeblich herauskommen soll, bereits da ist. Und es kostet nichts.

Aber es geht nicht: Der moderne Mensch wird von Geburt an so intensiv darauf gedrillt, daß das Leben aus Spannung, Aufregung, Event, Begeisterung und Konsum bestehen MUSS, daß er Ruhe und Zufriedenheit nur noch als deren Ergebnis für denkbar hält. Nicht zu reden von Demut, Bescheidenheit, Hingabe, Liebe – die gibt es überhaupt nicht mehr, weil sie dem eigenen Weiterkommen und dem Wirtschaftswachstum im Weg stehen.

Daß Langeweile schöner sein kann als manisches Herumhetzen mit einem Stachel im Arsch, der ständig nach einer Fortsetzung der Reizüberflutung schreit, ist heutzutage leider unvorstellbar. Vielleicht sollten wir es einfach mal wieder ausprobieren. Vielleicht sparen wir uns dadurch sogar die existenzielle Vollwäsche, die uns zu ausgelaugten Einzelsocken macht. Vielleicht stellen wir fest, daß das, was wir brauchen, gar nicht weg ist, sondern unter dem Müllhaufen von Konsum und Selbstverwirklichung still und geduldig darauf wartet, wiedergefunden und in den Arm genommen zu werden.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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