Frisch gepreßt #381: Enemies „Valuables“

Manchmal muß man sich ein Stück entfernen, nicht da sein, damit man die Dinge genau(er) sieht. Das gilt auch, gerade und besonders in dieser seltsamen Zeit, wo alles immer schneller wird, als wäre die ganze Welt in ein Zyklotron gestürzt, bis dann auf einmal alles stillsteht und man tagelang aus Fenstern in den stummen Schein hinausblickt. Da glitzert die Luft im pulsierenden Sonnenglanz vor winzigen Kristallen, denen man sich nähert und feststellt, daß es Erinnerungen sind.

Erinnerungen an lang verwehte Winter, die man genau so verbrachte, als die Zeit noch nicht verging, sondern ein Kontinuum bildete, einen Ozean. Hin und wieder wölbte sich eine Welle und lief gemächlich entspannt zum Horizont, und die Welt entfaltete sich in Details, die, wenn der zimtduftende Nebel des Tagtraums das Gehirn in luftig weiche Polster bettete und man sich kein Stück, sondern langsam ins Unendliche entfernte, zu einem immer stilleren, erhabenen Bild zusammenflossen: dem Bild einer Welt, deren Teil man nicht mehr war, weil sie vollständig in einem aufging.

Und immer schwebten Klänge durch diese Welt. Klänge, an die man sich am besten erinnert, wenn man sie nicht mehr hört. Die man hören muß, damit man sich an sie erinnern kann, irgendwann in fernen Nebenzeiten.

Da geht die Tür auf, jemand kommt herein und legt ein Best-of-Album auf den Tisch, eines dieser vielen, die in den Wochen vor Weihnachten erscheinen, weil Menschen nun mal so sind, daß sie die Dinge, die sie kennen, am liebsten haben möchten. Weil sie nicht verstehen, daß man Dinge nicht haben kann. Weil sie sich erinnern an einsame Spaziergänge in Kindheitsstraßen, erfüllt von dem unwiderstehlichen Puddinggefühl aus Glück, Einsamkeit und Trauer, das der Winter trägt und das die Dichter seit Jahrhunderten zu greifen versuchen, erinnern an den leeren Blick aus einem Fenster, ein Gesicht, von dem man wünschte, es wäre einem nah, könnte einen sehen und berühren, von dem man aber ahnte, daß es nur in einen stummen Schein hinaus- und zugleich in einen blinden Spiegel blickt.

Da hörte man zum Beispiel „Fade To Grey“ von Visage und fühlte das Gefühl rückkoppelnd schwellen, und wenn man vor Weihnachten 2016 eine Visage-Best-of auf den Tisch gelegt bekommt, dann möchte man sie haben, um dieses Gefühl wiederzubeleben. Und dann stellt man sie ins Regal, weil das nicht funktionieren kann und aber weiterhin versprechen soll, daß es irgendwann irgendwie doch funktioniert.

Aber dann läßt man plötzlich los und kann sich nicht mehr an den Moment erinnern, in dem man losgelassen hat. Man schwebt, umträumt von spiralig schwirrenden Gitarrenschleifen, die den Himmel durchkreisen wie Vögel, gestreichelt von gelassenen Berührungen von Holz, Blech und Haut, die man Trommelschläge gar nicht nennen kann, weil sie von selbst zu entstehen scheinen, wie die ganze flockige Lawine von Klang, die einen durchströmt, mit Menschen ganz und gar nichts zu tun zu haben scheint, selbst die Stimmen von Lewis Jackson, Mark O’Brien, Eoin Whitfield, Micheál Quinn (die im irischen Kilcoole leben sollen) und Louise Gaffney (zu Gast von Come On Live Long, aber das vergessen wir gleich wieder; ohne Körper sind Provenienzen ohne Bedeutung), sondern aus dem Vakuumpotential des Universums ersteht, im Augenblick und schon vergangen.

Was ist denn das für eine Musik? „Postrock“ sagt das Netz hier, „Experimental Indie“ sagt es dort und schweigt verschämt, weil die Frage auch lauten könnte: Was ist denn das für eine Welt? Und wie soll man die beantworten ohne Vergleich?

Irgendwo in der Ferne lächelt Brian Eno, und schon ist er wieder weg, und während die Gitarren, das Schlagzeug und ein Schwarm von Harmonien, Echos und Klängen durch die Himmel stürzen, kriegt man als letzten Fetzen Information noch mit, daß Enemies nach diesem Album verstummen werden. Was völlig logisch ist, denn mit „Valuables“ ist alles gesagt und getan, und diese Musik wird nicht vergehen, sondern in fernsten Nebenzeiten schwingen, schwellen, wehen, kreisen, schneien, schwimmen, treiben, flattern und die Welt erfüllen.

Und dann, dann schwebt man wieder in den einsamen Kindheitsstraßen, selbst körperlos und nicht mehr da. Sondern überall und ewig.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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