Frisch gepreßt #382: The Sweet „Desolation Boulevard“

Professor Mattenschlepp, inhäusiger Experte für die populäre Musik des letzten Jahrhunderts, wagt zu Jahresbeginn eine Prognose: „2017 wird ein Jahr, in dem kaum ein bedeutender Popstar sterben wird. Weil fast alle schon tot sind.“

Hm, mucken wir vorsichtig auf, und was ist mit Sweet bzw. The Sweet, wie sie bis Ende 1974 hießen? Die sind doch immer noch auf Abschiedstour, seit Ende 1974 genau genommen, oder 1978 oder 1988 oder seit wann auch immer, jedenfalls: sind sie noch, nicht wahr? „Ja“, säuselt Prof. Mattenschlepp mit glänzendem Auge, „die sind übrigens auch das vielleicht typischste Beispiel überhaupt: Zwei von vier sind tot, die anderen zwei haben sich Ende der 80er in bekanntermaßen unverwüstliche Öltanks verwandelt und lassen sich seither als stetig zerbröselnde Denkmäler ihrer selbst durch die Lande karren, jeder mit seinen eigenen Sweet, also ein paar kompetenten Muckern, die zu spät geboren und zu biederdröge sind, als daß man aus ihnen mehr machen hätte können als Füllmaterial für den Kleinanzeigenteil von Instrumentalistenfanzines.“

Und wieder wenden wir ein: Waren Sweet denn nicht von Anfang an Humbug, minderer Glitzerkram für minderjährige Schwesterherzen, die beim „Bravo“-Blättern vor dem Plattenspieler des reifen Hardrockbruders davon träumten, andere, großweltlich-glamourösere Lippen zu küssen als die des Jeansträgers aus der 8a mit den fettigen Spaghettihaaren?

„Ach“, sagt der Prof, „da weiß ich eine nette Anekdote: 1971 saßen The Sweet mal mit Deep Purple gemeinsam in einer Autobahnraststätte beim Frittenmampfen – man kannte sich seit vielen Jahren aus gemeinsamen Bands wie Wainwright’s Gentlemen, von allen möglichen Sessions in Studios und auf Bühnen, vom Saufen und Feiern sowieso. Da rückte ein Trupp progressiver Rockisten an, rümpfte die Nasen und begehrte zu wissen, wieso ihre Helden mit dieser ‚beschissenen Müllpopband‘ an einem Tisch säßen. Als niemand antwortete, wurden die Lederrecken konzilianter, priesen die aktuelle Single ‚Strange Kind Of Woman‘ und fragten, wann denn eine neue erscheine. Den Blick indigniert auf seinen Kartoffelteller gerichtet, antwortete Orgler Jon Lord: ‚Oh, ich denke, wir werden keine Singles mehr veröffentlichen. Wir möchten auf keinen Fall, daß ihr uns für eine beschissene Müllpopband haltet.’“

Es hilft ja manchmal das sogenannte „Hineinhören“, zum Beispiel in das möglicherweise größte Sweet-Album (das zweite des Jahres 1974), das soeben zum ungefähr vierzigsten Mal neu veröffentlicht wird, mit den gleichen Bonustracks wie beim zwölften und einunddreißigsten Mal, und neben dem in Sachen instrumentaler Brillanz, Dringlichkeit, Präzision, Kompetenz, Vielfalt und Wagemut so ziemlich alles verblaßt, was Deep Purple (von anderen zu schweigen) zu jener Zeit auf Vinylscheiben pressen ließen: Hardrock (klar), Jazz-Experimente, Bläser, ein höchst gewagtes und unterhaltsames (!) Schlagzeugsolo, etwas Balladerie und am Ende die vielleicht definitive Version von „My Generation“, von der Roger Daltrey was lernen konnte, die mit dem psychedelisch-verschwurbelten Ende die späten 60er neu erstrahlen läßt und Pink Floyd beschämt und bei der sowieso jedem Bassisten dieser Welt zuverlässig sein Instrument aus der Hand fällt.

Und dann die Hits. Die unverwüstlichste Halbstarkenhymne aller Zeiten: „Teenage Rampage“! Der zu Tränen rührende, bombastische Abgesang auf die Hippiegeneration:„The Six Teens“! „Fox On The Run“! Selbst das damals banal wirkende „Turn It Down“ klingt heute wie ein neonfarbener Strahlkracher. Und die B-Seiten und Demos: Da passiert so viel, daß die Ohren regelrecht schlackern, und es ist derart meisterhaft und druckvoll gespielt, daß man sich mit einem arroganten Lächeln nachträglich in diese Generation hineinwünscht. Wie übrigens neunzig Prozent aller heutigen Musiker, die sich für „Rock“ halten.

„Tja“, doziert Prof. Mattenschlepp milde, „das ist das Schlimme an Popmusik: So gut wie damals, als sie neu, sensationell, spannend und blendend geil war, wird man sie nie mehr machen können. Und das ist das Schöne: Das muß man auch nicht. Sie ist ja schon da.“

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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