Einer der fiesesten Tricks moderner Herrschaft ist die schleichende Demütigung. Die sieht man zum Beispiel an Ampeln: Weil sich München aus Gründen der Propaganda als Stadt der Fußgänger und Radfahrer aufführen muß (um nicht am Ende „lebensunwert“ zu werden), weist man zum Beispiel unsere Straße als „Fahrradstraße“ aus. Das heißt, man klebt entsprechende Beschriftungen aus Plastikteer auf die Fahrbahn, die, wenn bei Temperaturen über null Grad Autos drüberfahren, nach ein paar Tagen unlesbar verschmiert sind, und stellt hier und da noch mehr Schilder auf, als sowieso schon herumstehen.
Ansonsten hat das Ganze keinerlei Wirkung. Die Autofahrer mit ihren Panzerboliden brettern mit dem Telephon am Ohr hindurch wie eh und je und stellen ihre Panzerboliden in die wegen den immer fetter werdenden Panzerboliden nötigen Querparkplätze so hinein, daß die auf den Bürgersteig flüchtenden Radler garantiert nicht mehr durchkommen (ebensowenig wie die Fußgänger, aber die haben ja in einer „Fahrradstraße“ sowieso nichts verloren), ohne die Panzerboliden mindestens zu touchieren und Großalarm auszulösen. Aber immerhin: die Stadt zeigt „guten Willen“.
Andererseits muß München jedoch wie jede andere Stadt die Wünsche und Bedürfnisse der Auto- und Verkehrsindustrie bedingungslos erfüllen und stellt deswegen im Autoreich des Münchner Nordens, wo die Karren hergestellt und verkauft und begeisterten koreanischen Touristen in einem regelrechten „Museum“ vorgeführt werden, dutzende Ampeln für jede noch so kleine Ein- und Ausfahrt auf, so daß ein Radler, der einigermaßen gesund den Mittleren Ring überquert hat, selbst am Wochenende und nachts bei vollkommen leerer Straße und geschlossenen Werks- und Zwingburgtoren circa siebzehnmal stehenbleiben und warten muß, gierig beäugt von der Polizei, die mit derlei widersinnigem Schmarrn ein Heidengeld verdient.
Aber zurück zu unserer Straße. Da gibt es auch Ampeln, die den Fluß der querlaufenden Hauptstraßen kurz unterbrechen sollen, damit nichtmotorisierte Lebewesen hin- und wieder herüberkommen, ohne versehentlich von rasenden Panzerboliden ermordet zu werden. Das nervt die Panzerboliden, weil es wertvolle Sekunden kostet. Also hat man deren Grünphasen vor einiger Zeit kurzerhand und ankündigungslos verdreifacht.
Der Effekt ist klar: Anfangs überquerten Fußgänger und Radfahrer die Straße nach einigem Warten einfach bei Rot, weil sie die Ampel für defekt hielten und die Straße ja nun eh vollgestaut mit stehenden Karren beziehungsweise völlig leer ist. Dann kam die Polizei und kassierte ein Heidengeld. Und heute wird man zum Beispiel am Sonntagnachmittag Zeuge einer geradezu absurden Szenerie der Demütigung: Da steht eine Horde von Menschen eine gefühlte halbe Stunde an einer völlig leeren Straße herum. Und niemand bemerkt die Demütigung, weil sie so schleichend verlief.
Schleichend verlaufen auch andere Dinge. Zum Beispiel die Entwicklung der menschlichen Ernährung. Da vermeint man, wenn man die Trendpropaganda studiert, der moderne Hochleistungs- High-Performer mampfe dermaßen ausschließlich bio, regio, nachhaltig, vegan und bimsi-bomsi-ultrabewußt, daß man sich fragt, wieso das Sortiment der Supermärkte nach wie vor zu 95 aus Müll besteht (der Rest ist Müll mit „bio“-Aufkleber).
Neulich habe ich mal ein Männermagazin durchgeblättert. Ich weiß, jetzt lachen alle, aber die Liebste war beschäftigt, ein Buch nicht zur Hand, der Computer kaputt, und das Ding hatte ein offenbar halbvernünftiger Zeitgenosse ungelesen (zumindest ohne die Parfumproben zu entnehmen oder reinzukotzen) im Biergarten liegengelassen. Und außerdem habe ich diese Männermagazine aus meiner späten Kindheit in guter Erinnerung. Da waren immer Interviews mit Terroristen, Filmregisseuren und anderen Wahnsinnigen drin, Texte von Bukowski, Truman Capote, Woody Allen, notfalls auch mal Wolf Wondratschek, aber jedenfalls nicht von Franz Josef Wagner, Marc Beise, Ijoma Mangold und Konsorten. Und es gab schlüpfrige (aber manchmal ganz witzige) Witze sowie viele Bilder von nackten Püppchen, die so aussahen, als wäre Sex mit ihnen ungefähr so reizend wie eine Grillparty in einer Kaufhaustiefgarage mit Folienkartoffeln aus dem Auspuffrohr eines VW Käfer. Was einen in gewissen spätkindlichen Sehnsuchtszuständen recht gut trösten konnte: lieber gar nicht als so.
Heute gibt es in so einem Männermagazin: Autos (d. h. Panzerboliden: „Wenn man es schon selbst nicht tut, dann soll wenigstens das Auto das Maul aufreißen“ – das hört er gern, der „Arbeitgeber“), Interviews mit den Herstellern von Panzerboliden sowie Klamotten, Karrieregeschwafel, noch mehr Karrieregeschwafel, ein bisserl „Personality“-Geschwätz von dummen Millionären und Leistungssportlern („Ich habe mir immer genau das abverlangt, was von mir gefordert wurde“ – das hört der Boß noch lieber), Klamottenreklame und vor allem: Essen. Und zwar: Fleisch. Weil der moderne Quality-High-Performer jedoch ein solcher ist, frißt er nicht mehr einfach so Spare-ribs (zur Erinnerung: Das ist das Zeug, das vor zwanzig Jahren alle fraßen, bis sich herausstellte, daß es „Soulfood“ ist – also die Reste, die Obdachlose in amerikanischen Großstädten aus den Müllcontainern der Schlachtfabriken klauen und in Ölfässern so lange anbrennen lassen, bis man sie mit viel Salz, Pfeffer und Glutamat notfalls essen kann, ohne am nächsten Morgen zu sterben). Und falls doch, dann kauft er sie beim Nobelfleisch-Outlet, nennt es einen herzhaften Schweinebauch und schmiert ein Pfund Honig drauf, weil das dann „sündig“ ist und nicht mehr einfach nur eine üble Sauerei.
Und ansonsten frißt er: Burger. Zur Erinnerung: Das ist das Zeug, mit dem ein paar US-Konzerne vor dreißig Jahren auch deutsche Schulkinder in Ölfässer zu verwandeln begannen, in denen man jedoch nicht mal Soulfood anbrennen kann, weil man sonst Diabetes kriegt. Aber freilich ist der heutige Burger nicht mehr der 1-Mark-Hackdreckfladen mit Weizenwatte, einem schwermetallverseuchten Salatblatt, einer angeblichen Tomatenscheibe aus Holland und auf Wunsch etwas „Schmelzkäse“ (einem Mansch aus Eiweißresten mit giftigen Salzen) von dazumal. Sondern ein irgendwie bioregionachhaltiger Hackdreckfladen mit leicht krustiger Weizenwatte, einem schwermetallverseuchten Salatblatt, einer angeblichen Tomatenscheibe aus Holland und auf Wunsch etwas „Gouda“ (einem Mansch aus Eiweißresten mit giftigen Salzen). Also dasselbe, aber jetzt voll männlich, doppelt so fett und nicht mehr eine Mark teuer, sondern zehn bis zwanzig Euro.
Den gibt es heute überall da, wo es früher Essen gab, seit in jedes ehemalige Speiselokal ein Burgerbrater hineingezogen ist, und den dreht man sich dann samt extrafetten Pommes vor der Glotze in den Schlund, rülpst zufrieden, glotzt eine Regiobionachhaltigkeitssendung über moderne Ernährung und blättert hinterher auf dem Klo in der Männerzeitschrift, um noch mehr Lust auf Burger und „sündige“ Schweinebäuche zu kriegen.
Und dann, irgendwann, ist man so gedemütigt, daß man selbst dann nicht mehr aufstehen und sich wehren könnte, wenn das mit der angefressenen Riesenplautze noch hinhauen täte. Weil’s halt so schleichend ging, daß man gar nichts gemerkt hat. Schon fies, gelt?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.