Frisch gepreßt #339: Vierkanttretlager „Krieg & Krieg“

Unser Rezensent hat ein ernstes Problem mit Bezugsdeppen. Bezugsdeppen, das sind Menschen, die, statt eine Sache zu würdigen, einen Bezug zu einer anderen Sache herstellen und sie damit abtun. Also zum Beispiel findet jemand eine wunderschöne Glasperle im Dreck an der Bushaltestelle, zeigt sie dem Bezugsdeppen, und der Bezugsdepp sagt: „Na ja, eine Perle halt. Sieht bißchen so aus wie die, die ich letztes Jahr im Wald gefunden habe. Hab ich weggeworfen, weil ich schon eine zu Hause hatte.“

Aber schau mal die Farben, den Schimmer, die Lichtbrechung, den Glanz! sagt unser Rezensent, und der Bezugsdepp führt ihn über die Straße zu einem Perlenladen, wirft die Perle in irgendeinen Topf mit vielen Perlen und sagt: „Eben. Sehen alle gleich aus. Alles schon mal dagewesen.“

So geht es unserem Rezensenten immer, wenn er alle paar Jahre eine neue Band zur geilsten Band der Welt oder wenigstens der nächsten vierzehn Tage ausruft. Dann kommen die Bezugsdeppen und stellen unmögliche Bezüge her, um die Bands abzutun: Bei Howler haben sie ihm The Trashmen ans Knie genagelt, bei Wanda wollten sie ihm Falco hinters Ohr klemmen, bei Herrenmagazin haben sie Blumfeld und bei Findus Ton Steine Scherben aus dem Keller geholt. Und bei Vierkanttretlager sind die Allerschlauesten gleich mit der kompletten „Hamburger Schule“ dahergekommen, ohne auf den Gedanken zu geraten, daß es ohne u. a. Wedding Present, Wire und Münchener Freiheit und notfalls Robert Johnson und die Schrammel-Brüder keinen einzigen Ton von Blumfeld gäbe und Die Sterne mehr Ähnlichkeit mit den Bee Gees haben als mit diesen Burschen, die noch dazu aus Husum kommen, was die Bezugsdeppen nicht anficht: „Eben! noch hamburger als Hamburger!“

Verzweifelt fragt unser Rezensent, wieso denn niemand auf die Idee kommt, mal zu fragen, wieso die Bands zum Beispiel in Deutschland (oder gerade da) seit Jahrzehnten immer besser werden. Ob das vielleicht damit zu tun haben könnte, daß sie lieber viel hören und noch mehr lernen, als sich in den Keller zu setzen und dreimal täglich „Wir müssen alles vergessen und was völlig Niedagewesenes tun!“ zu beten. Und ob vielleicht nicht das Neue mit dem Alten, sondern das Alte mit dem Neuen zusammenhängt und das insgesamt total egal ist.

Denn freilich verstrahlt ein Lied wie (nein, eben: das Lied) „Laß uns den Verstand verlieren“ eine ähnlich unfaßbare Euphorie, alle Rahmen und Radioprogramme sprengende Radikalität und die orgasmische Melancholie des triumphierenden Verlierers wie Sportfreunde Stiller damals auf ihren ersten beiden EPs, aber aus tausend Kilometern Entfernung sieht ein Apfelbaum so ähnlich aus wie ein Kirschbaum, und trotzdem sind Äpfel keine Kirschen, ist ein Garten mit einem einzigen Baum traurig und es absolut nicht einzusehen, weshalb es untoll sein soll, wenn die guten Dinge mehr werden.
Vielleicht ist der Bezugsdepp, der gerne mal als moderne Witzfigur mit Diekmann-Bart, Hütchen und getönter Sonnenbrille um seinen inneren Gärtnerplatz herumkreiselt, allzu sehr vom Erbe des Monotheismus geprägt: Gott darf es ja auch nur einmal geben, und wenn jemand weniger doof ist als ich und mehr Spaß hat, dann halten wir ihm das Wort der Bibel oder des Propheten entgegen! Ja mei.

Unser Rezensent dreht dann gerne die Lautstärkeregler auf, weist auf die aberwitzigen Gitarrenfiguren auf seiner neuen Lieblingsplatte hin, auf die unglaublichen, todesmutigen Strukturen und Arrangements, auf die Liebe, Mühe und Genialität, die in diesem wunderbaren Krach steckt. Hört euch, sagt er, die Geschichten an, die diese Lieder erzählen, die beim Hören in eurem Kopf entstehen und die diese Songs erst zu richtigen Songs machen, weil sie so funktionieren, wie Jeff Buckley das unserem Rezensenten mal erklärt hat: Sie sind „… hm, ein Bild vielleicht so klein wie eine Briefmarke. Du trägst es eine Woche in der Hosentasche spazieren, und wenn du es dann in Wasser legst, wird es so groß wie ein Fußballplatz.“

Wenn er ganz geschert ist, legt unser Rezensent dann „Der letzte Satz der Welt“ auf, und dagegen kann sich wirklich kein Mensch mit Herz und Seele wehren. Dann reißen wir die Fenster auf, dann ziehen wir los, schießen uns mit der eisig stolzen Postpunk-Melancholie von „Jetzt für immer“ in die Stratosphäre, heulen zu den vernichtend schönen Ballade „Schweigen“, sprengen den Perlenladen in die Luft und lachen und brüllen so laut, daß es der ganze Planet hört: Vierkanttretlager sind die geilste Band der Welt oder wenigstens der nächsten vierzehn Tage.

Und das sind dann eben die geilsten vierzehn Tage der Welt. Oder so. Ohne Bezug.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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