Frisch gepreßt #340: Blur „The Magic Whip“

Wie unfaßbar bedeutend und absurd depptrottelig lächerlich zugleich Popmusik sein kann, zeigt kaum ein Casus so beispielhaft wie die legendäre „Rivalität“ zwischen Blur und Oasis in der Goldenen Ära des Britpop vor zwanzig Jahren. Da scherte sich eine ganze (internationale) Nation ein paar Wochen und Monate lang um kaum etwas als die Hin-und-Her-Schimpferei zweier Popgruppen bzw. ihrer Hauptprotagonisten, Mitarbeiter und Fans. Vor allem aber bestand die ganze „Welle“, auf der sie ritten und in der wunderbare Bands wie die Longpigs leider untergingen, aus einer hemmungslosen Orgie des In-einen-Topf-Schmeißens, bei der sämtliche Pseudomusikjournalisten der westlichen Welt im Vollsuff der Aftershowparties damit beschäftigt waren, auf alles denselben Stempel draufzuklatschen. Die Plattenfirmen taten fröhlich mit und beklebten ihre Plastikschachteln mit Union Jacks und „Buy British“-Etiketten, bis das mediale Universum aussah wie eine einzige Britparade und niemand das gleichgemachte Zeug mehr sehen und hören wollte.

Dabei sind das Interessante doch die Unterschiede und, hinter ihnen wurzelnd und sie als notwendige Parasiten tragend, die Eigenheiten. Wer sich ohne biographische Vorbelastung (oder auch mit einer solchen) heute „Dan Abnormal“ und „All Around The World“ anhört, braucht fünf Gehirne und drei Phantasien, um zu begreifen, daß beides mal in ein und dasselbe angebliche Genre gestopft werden sollte.

Alles ein Thema für Althistoriker, und zum Glück ist niemand mehr so doof, Querverbindungen herstellen zu wollen zwischen dem kreuzbiederen und stinkestonkfaden Seim, der aus Noel Gallaghers aktueller Platte quillt, ohne mehr als den Eindruck zu hinterlassen, man ertrinke in Leberwurst, und dem neuen Album von Blur, auf dem in den ersten acht Takten des Openers „Lonesome Street“ mehr passiert als auf sämtlichen Oasis- und Gallagher-Alben seit „(What’s The Story) Morning Glory“ zusammen. (War das jetzt doch eine Querverbindung? Oh, Verzeihung!)

Na gut, mag man sagen, sie hatten ja auch Zeit: Zwölf Jahre sind seit dem lauen Abgesang „Think Tank“ vergangen, da sammelt sich trotz mannigfaltigen Solo- und Projektarbeiten schon was an. Aber die heutige Band Blur steht mit allen acht Beinen ebenso fest wie locker federnd in der Gegenwart, und daß man sie trotzdem wiedererkennt, liegt lediglich an ihrer Unverwechselbarkeit und an sozusagen genetisch veranlagten, eben: Eigenheiten.

Der typisch (meinetwegen: britisch, aber längst nicht mehr ungestüm) swingende Groove, die melancholisch angebräunten Harmonieflüsse, der chic herausgestellte Londoner Akzent, die witzigen Ideen, die die Band wie bunten Diamantschnee zwischen die Schichten der (an sich meist klassisch simplen) Songs rieseln läßt, Graham Coxons an sämtlichen Underground- und Avantgarde-Experimentatoren der letzten fünfzig Jahre geschulte (und überall darüber hinaussprießende) Gitarreneskapaden … Das ist so charakteristisch Blur, daß einem plötzlich wieder einfällt, wie ungerecht es war, sie damals in Verknüpfung mit dem gallagherschen Beatles-Getue als Kinks-(und XTC-)Epigonen zu betrachten (auch wenn „Country House“ das gerechtfertigt haben mag).

Viel wichtiger war eine Band, die kaum jemand je mit Britpop in Verbindung gebracht hat: Wire, die vielleicht britischsten, wagemutigsten, solitärsten und größten Grenzgänger der Popgeschichte (deren neues Album übrigens auch grad erschienen ist). Die scheinbar simplen, aber irgendwie auf hypnotische Weise unlogischen Harmonien und an den Rändern verwischten Melodien, der skurrile, immer ernstgemeinte Witz, die verdrehten Ideenfäden, aus denen plötzlich ein Strick wird, der gleich wieder reißt, die vielen schroffen und charmanten Brüche, die provozierte Unschärfe, die Verweigerung gängiger Popstrukturen bei gleichzeitig höchster Poptauglichkeit – all das kann, wer mag, ohne Probleme auf Alben wie „Pink Flag“, „Chairs Missing“ und „Send“ zurückführen.

Ach, wer weiß: Vielleicht wäre es witzig, eine neue Britpop-Thronrivalität zwischen Blur und Wire zu inszenieren. Und sei’s nur um zu zeigen, wie unfaßbar bedeutend und absurd depptrottelig lächerlich zugleich Popmusik sein kann.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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