Frisch gepreßt #324: Interpol „El Pintor“

Es ist Herbst; wir tanzen mit gesenktem Blick. Schreiben ein Buch mit leeren Seiten. Gefühle sind Blech, schwer beladen, dunkel schimmernd im Widerhall der Zeiten, einer endlosen Parade von Abschieden. Alles verliert sich, grau die Luft, leer das Herz, und wir tanzen mit gesenktem Blick.

Und wir leben in unfaßbar weiten Räumen, ziehen Horizonte entlang, diesseits und jenseits nur Nebel. Was ist, verschwimmt; was war, kehrt zurück, bleibt ungreifbar, wie Wolken aus fremden Dimensionen.

T hat I verlassen; sie tanzt mit gesenktem Kopf, nippt zwischendurch an ihrem neonklaren Getränk, ein bitteres Lächeln, der Blick verausgabt sich stählern.

„Vor 1977 gab es dafür keine Musik“, sagt sie, zu wem?

„Und seitdem“, sage ich, „gibt es sie alle fünf bis zehn Jahre.“

„Gut so“, sagt sie. „Unbestimmter Schmerz sammelt sich wie Staub. Alle paar Jahre muß man ihn wegwischen und die Seele polieren.“

„Die Seele? Du meinst den Kern der Ironie?“

Wieder lächelt sie, wissend. Wir fallen ineinander und können uns nicht halten, nicht länger als einen ewigen Moment.

1977 ist wahrscheinlich nur ein Anhaltspunkt, und vielleicht ist es Zufall, vielleicht ist aber auch wirklich David Bowie schuld: „Low“, und dann „Heroes“, das Meisterwerk kühler Verzweiflung, heroischer Melancholie und kontemplativer Leere, dem jedoch das Debütalbum von Ultravox! schon im Februar vorausgegangen war. „I Want To Be A Machine“ und „The Lonely Hunter“; tobende, rasende, schimmernde und scheinende Dunkelheit, Vergeblichkeit, Gefühle wie Laserstrahlen unter der schwarzen Glasglocke einer nuklearen Apokalypse. Siouxsie & The Banshees, Magazine, Joy Division … mit The Cure wurde die Reaktion zum Stil, zum Genre, so weit und allgegenwärtig, daß Überdrüssige Gummipalmen aufstellten, Sonnenuntergänge malten und gefühlte Südseen durch die verspiegelten Räume fluten ließen, weil’s halt nicht mehr ging.

I lächelt noch immer. „Was ich fühle“, sagt sie, „ist eine Gitarre, ein greller, zugleich demütiger und unzähmbarer Schrei der Verletztheit, der durch die Schluchten einer toten Stadt hallt, Sehnsucht nach nichts und allem, nach Einsamkeit und Geborgenheit. Weshalb sind wir so zerrissen?“

„Is someone there?“ singt Paul Banks. „I’m dying to be cruising in my blue supreme.“

„Alle Bilder“, sagt I, „müssen zerfließen. Ich verzehre mich. Ich möchte fallen, ohne aufgefangen zu werden. Aber halt mich fest.“

„Everything is wrong“, singt Paul Banks. Seine Gitarre durchschneidet die Nacht, eine dunkelblau glänzende Spirale, die sich dreht und dreht und nie verändert. „Everything is wrong. All we have is time, but my heart is going wrong.“

Ich ahne, daß das vergehen wird, wie alles vergeht. Draußen lauert der Herbst, während der Spätsommer nun doch wieder zaghaft fröhlich und zaghaft verloren durch die Straßen tanzt wie zu früh gefallene Blätter, die ihren Baum suchen.

Wir tanzen mit gesenktem Blick und schreiben ein Buch mit leeren Seiten. Alles wird vergehen und wiederkehren. Ich halte I, und sie fällt. Und Paul Banks singt.

(Abspann/Fakten: „El Pintor“ ist Interpols fünftes Album, das mit Abstand schönste und beste seit ihrem Debüt 2002; Interpol sind eine US-amerikanische Band, die klingt, als wäre sie 1978 in Manchester geboren und in der Zeit eingefroren; eine eisige Melange aus New Wave, Goth-Romantik, Neon-Melancholie und glühender Kälte – aber halt, das sind ja schon wieder keine Fakten mehr … Epigramm: Man muß nicht verlassen werden, der Winter kommt von selbst, und mit diesem Album werden wir ihn überleben, bis zur Dämmerung der Ironie.)

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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